Wohin und zurück: Wien 1946
Erinnerungen an Exil, Rückkehr, Nachkriegsschweigen und eine einzigarte Geschwisterliebe
Caroline Wohlgemuth
Timothy Smolka kehrte 1946 gemeinsam mit seiner Familie aus London zurück nach Wien. Er war damals sieben Jahre alt. 1938 im Exil geboren, erlebte er gemeinsam mit seinem um zweieinhalb Jahre älteren Bruder Tommy eine abenteuerliche frühe Kindheit, die an ein Wunder grenzt. Der heute 84-Jährige, von seiner Familie und seinen Freunden -liebevoll „Timmy“ genannt, erinnert sich und erzählt mit einem lachenden und einem weinenden Auge über seine Kindheit in London und New York, seine Jugendjahre in Wien nach der Shoah und über das Nachkriegsschweigen.
Die Eltern verlassen 1933 ihre Heimatstadt Wien
Genau sieben Monate nach dem „Anschluss“, am 12. Oktober 1938, kam Timothy Smolka in London zur Welt. Bereits zweieinhalb Jahre zuvor, im Februar 1936, wurde dort auch bereits sein älterer Bruder Thomas geboren. Timmys und Tommys Eltern kamen beide aus Wien. Die Gefahr kommen sehend, beschlossen Timothys Eltern im Frühling 1933, ihrer Geburtsstadt den Rücken zu kehren, und damit der weitverzweigten Großfamilie mit den vielen Tanten, Onkeln und Cousinen, dem gesamten Freundeskreis und ihrem Zuhause.
Olga, Otto, Anton, Max, Franz, Bohumil, Albert und Karl waren alle als Kinder einer großen jüdischen Familie in Caslav in Böhmen aufgewachsen. Einer von ihnen, Albert, war Timothy Smolkas Großvater, der noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien übersiedelte, so wie viele seiner Geschwister.
Albert Smolka heiratete 1910 Vilma Wottitz, deren Familie aus Lemberg kam. Timothys Vater, Peter Smolka, wurde am 17. September 1912 als tschechischer Staatsbürger in Wien geboren und nahm erst viele Jahre später, 1928, die österreichische Staatsbürgerschaft an. Nach -einigen Semestern Jus ging der junge Mann, der immer schon Journalist werden wollte, nach London, um an der London School of Economics zu studieren und als Korrespondent einer Wiener Zeitung zu arbeiten. Timothys Eltern, Peter und Lotty Smolka, heirateten im -April 1933 im Wiener Rathaus, damals waren -beide gerade einmal zwanzig Jahre alt. Das Judentum spielte für das junge Ehepaar keine Rolle, Peter Smolka trat aus der Kultusgemeinde in Wien aus.
„Meine Eltern haben die Gefahr rechtzeitig erkannt und sind bereits im Mai 1933 von Wien nach London emigriert, nachdem Hitler in Deutschland an die Macht gekommen war. Mein Vater wurde dann Korrespondent bei der Neuen Freien Presse in London. Im Jahr 1938 wurden meine Eltern englische Staatsbürger. Dadurch konnten sie auch ihre Eltern und Geschwister nach London holen“, erzählt Timothy Smolka.
Am Tag vor dem „Anschluss“ am 11. März 1938 rief Peter Smolka besorgt seinen Vater Albert in Wien an, um ihn zu warnen: „Es wird zu gefährlich! Lasst alles liegen und stehen, setzt euch in die Pressburger Elektrische, ich hole euch in Bratislava ab, und ihr kommt nach London.“ Timothys Großvater reagierte wie so viele Menschen zu dieser Zeit mit den Worten: „So ein Unsinn, was soll uns bloß geschehen?“ Albert Smolka befolgte den Rat seines Sohnes nicht sofort. Doch im Herbst 1938 flohen die Großeltern vor den Nazis aus Wien und kamen nach London. Viele der übrigen Verwandten in Wien, die vielen Geschwister der Großeltern, Cousinen und Cousins, Tanten und Onkeln, flohen rechtzeitig aus Wien nach England, in die USA, nach Brasilien und Palästina.
Als Baby nach New York zu Random House
Die Familie lebte kurze Zeit vereint mit den Großeltern im selben Haus in London. Zu dieser Zeit kam auch Timmy zur Welt, im Oktober 1938, kurz nach der Flucht der Großeltern aus Wien. Nachdem die Situation in England 1940 während des Krieges für die Kinder zu gefährlich wurde, beschloss der Vater, die beiden Buben nach New York zu einer Pflegefamilie zu schicken. Timmy war damals zwanzig Monate alt, sein älterer Bruder vier Jahre. Zu zweit, mitten in den Kriegswirren, traten die beiden mit einem Schiff von London nach New York eine Reise ins Ungewisse an.
„Erinnern kann ich mich an die Überfahrt nicht, auch nicht an die Ankunft im New Yorker Hafen. Ich war ja doch noch sehr klein. Tommy, der um zweieinhalb Jahre älter war als ich, hat sehr gut auf mich aufgepasst und mir später immer wieder davon erzählt.“ Laut den Erzählungen des älteren Bruders war die Ankunft in New York mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Die Pflegeeltern, auch eine jüdische Familie, wollten damals nur ein Kind aufnehmen. „Aber Tommy hat darauf bestanden, dass wir zusammenbleiben. Irgendwie konnte er die Pflegemutter überreden, uns beide gemeinsam aufzunehmen. Und so war es dann auch. Wir blieben zusammen.“
Die Pflegeeltern Robert, Gründer und Eigentümer des Verlags Random House, und Merle Haas hatten selbst drei Kinder, die jedoch wesentlich älter waren als die -beiden Brüder. Die Haas kümmerten sich -liebevoll um die zwei kleinen Buben aus Europa. Merle war Schriftstellerin und übersetzte französische Kinderbücher ins Englische, etwa die Geschichten vom Elefantenkönig Barbar und seiner geliebten Frau Celeste. Familie Haas war sehr wohlhabend, den Buben fehlte es an nichts. „Für mich war es eine sehr schöne Zeit. Ich war ein lustiges und dickes Baby, alle waren lieb zu mir. Meinem Bruder jedoch ging es dort nicht so gut. Er litt unter starkem Heimweh und war sehr unglücklich. Tommy konnte niemals verstehen, warum unsere Eltern uns weggeschickt haben. Er hat die Trennung von unseren Eltern sehr schwergenommen.“ Lotty Smolka dürfte dies gespürt haben. Sie bat einen Freund der Familie, der geschäftlich nach New York gefahren war, nach den Kindern zu sehen. Nachdem er den Eltern berichtete: „Euren Kindern geht es wunderbar! Sie haben in New York ein herrliches Leben, ihr solltet sie nicht mehr nach Europa zurückholen, sondern sie für immer hier bei den Pflegeeltern lassen“, machte sie etwas schier Unmögliches möglich: Sie holte mitten im Krieg die Kinder nach England zurück.
Es wird zu gefährlich! Lasst alles liegen und stehen und kommt nach London!
Im März 1943 fuhren die beiden Buben mit einem Schiff von New York nach Lissabon. Von dort ging es weiter mit einem Wasserflugzeug nach Schottland und schließlich im Zug nach London zurück zu den Eltern. „Meine Mutter hat diese Rückreise mitten im Krieg organisiert. Wie sie das geschafft hat, ist mir bis heute ein Rätsel.“
Begleitet wurden die mittlerweile vier und sechseinhalb Jahre alten Buben von einer jungen Freundin der Familie Smolka, der dreizehnjährigen Eva Altmann. „Eva Altmann war die Tochter unseres Hausarztes Dr. Altmann und die Nichte von Lotte Altmann, der zweiten Ehefrau Stefan Zweigs.“
Im Exil lebten die Smolkas und die Altmanns einige Zeit gemeinsam in einer Londoner Wohnung. Die Altmanns waren 1933 aus Deutschland geflohen. Peter Smolka und Stefan Zweig, der ebenfalls ab 1934 im Londoner Exil lebte, waren befreundet. Timothys Vater war es auch, der Stefan Zweig und Lotte Altmann mit-einander bekannt machte und dem berühmten Schriftsteller vorschlug, die junge Frau als Sekretärin zu engagieren. Die beiden verliebten sich ineinander und heirateten 1939 im englischen Exil. Das Ehepaar Zweig reiste nach New York und kümmerte sich dort weiterhin um die kleine Eva, um dann weiter über Argentinien und Paraguay nach Brasilien zu emigrieren.
Auch Eva Altmann wurde von ihren Eltern aus England nach New York geschickt, und da sie dort unter entsetzlichem Heimweh litt, gemeinsam mit Timmy und Tommy wieder zurückgeholt. Unversehrt kamen die drei Kinder nach einer langen Reise am 12. April 1943 in London an.
„Es war schön, dass wir nach diesen Jahren der Trennung endlich alle wieder zusammen waren. An dieses Gefühl erinnere ich mich noch sehr gut. An das Gefühl, wieder bei meinen Eltern zu sein. Wir lebten zuerst in London, während des Bombenkrieges am Land und danach wieder in der Stadt.“
Die Rückkehr der Familie in ein anderes Wien
Timothy Smolkas Rückkehr endete nicht in London. Sein Vater beschloss nach Kriegsende, wieder zurück in seine Geburtsstadt zu gehen. „Mein Vater kam als englischer Besatzungsoffizier bereits im August 1945 nach Wien“, erinnerte sich Timmy. Im April 1946 übersiedelte die gesamte Familie, Peter und Lotty, Timmy und Tommy, nach Wien. Für Timmy war es ein Neubeginn in einer für ihn vollkommen unbekannten Stadt. Er war damals sieben Jahre alt und ein Volksschulkind, das nur Englisch sprach. „Mein Vater war ein unverbesserlicher Optimist. Trotz allem, was geschehen war, wollte er zurück nach Wien, um dabei zu sein, um seine Heimat wieder demokratisch aufzubauen.“
So kehrte die Familie zurück in die Stadt des Nachkriegsschweigens. Sie lebten zunächst in Lainz und zogen in das Haus der mütterlichen Großeltern, das 1938 „arisiert“ worden war.
„Wir kamen am 29. April 1946 nach Wien, und am 2. Mai musste wir schon in die Schule gehen.“ Timmy wurde in die zweite Volksschulklasse in der Steinlechnergasse in Lainz eingestuft. „Ich musste in die Mädchenklasse gehen, da die Lehrerin der Mädchenklasse zumindest einige Worte Englisch sprach. Ich war der einzige Bub unter 22 Mädchen, verstanden hat mich niemand.“
Für mich war es eine sehr schöne Zeit. Ich war ein lustiges und dickes Baby
Die Schule organisierte für Timmy und seinen älteren Bruder eine Nachhilfelehrerin, die an einigen Nachmittagen der Woche die Buben zu Hause unterrichtete, um ihnen Deutsch beizubringen. „Das war das Fräulein Rupp. Sie hatte damals ein Berufsverbot und durfte nicht als Lehrerin in der Schule arbeiten, da sie während des Krieges Mitglied der NSDAP war. Aber darum kümmerte sich niemand. Die Schule organisierte das damals für uns. Sie war ganz nett. Eine Opportunistin, wie so viele Menschen in Wien.“
Die Buben, die in England mit ihren Eltern im Exil ausschließlich Englisch gesprochen hatten, lernten innerhalb kürzester Zeit Deutsch. Noch im Herbst desselben Jahres kam der ältere Bruder in das Gymnasium in der Fichtnergasse in Hietzing.
Der Alltag in Lainz war friedlich. Die Eltern unternahmen alles, um den Buben im zerstörten und ausgebombten Wien eine möglichst unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Auch die Großeltern kamen 1953 aus London wieder zurück nach Wien. Sie lebten in einer Pension. „Sie kamen nur für uns, um bei uns zu sein. Mit der Stadt Wien und den Menschen hier wollten sie nichts mehr zu tun haben.“ Sie bezogen auch keine eigene Wohnung mehr, sondern lebten in den darauffolgenden Jahren in verschiedenen Pensionen in Wien, im achten Bezirk und schließlich in Baden. Sie blieben Fremde in ihrer Geburtsstadt, immer bereit, wieder zu -gehen. -Beide starben in den 1960er-Jahren in Wien. „Ich hatte eine glückliche Kindheit, mit meinem Bruder, den Eltern und den Großeltern. In Lainz war es ruhig und schön, und wir hatten immer genug zu essen.“
Dass er in eine vom Krieg zerrüttete Gesellschaft zurückgekehrt war, wurde Timmy nur an wenigen Tagen bewusst – wenn er mit der Großmutter von Lainz nach Wien in die Innenstadt fuhr und die ausgebombten Häuser sowie die devastierte Oper und die leeren Augen der Menschen auf der Straße sah.
Timmys Schulzeit verlief ohne Freunde
Die Buben besuchten die Volkschule in Lainz, später das Gymnasium in der Fichtnergasse in Hietzing und in der Oberstufe die Stubenbastei in der Wiener Innenstadt. „Ich hatte in der Volksschule, später im Gymnasium in Hietzing oder an der Stubenbastei nie das Gefühl, dazuzugehören. Mein Bruder und ich waren die einzigen jüdischen Kinder in der Klasse. Ich war allein.“
Enge Freundschaften in der Schule gab es kaum. „Verstanden habe ich das erst viel später, da war ich bereits erwachsen. Während der Jahre in London war mir gar nicht bewusst, dass wir Juden waren. Religion war bei uns zuhause überhaupt kein Thema. Eigentlich habe ich erst über die Ausgrenzung in der Schulzeit in Wien verstanden, dass ich Jude war. Einmal sagte die Großmutter eines Schulfreundes zu mir auf der Straße: ,Geh ham, du Jud’!‘ Die Kinder waren genauso wie die unverbesserlichen Eltern und Großeltern. Sie haben es einfach nachgeplappert.
Da war immer dieses Gefühl da, nicht dazuzugehören. Ausgegrenzt zu sein. Auch die Lehrer vermittelten mir dieses Gefühl, dass ich anders sei. Später an der Stubenbastei habe ich es darauf zurückgeführt, dass ich in Mauer lebte und nicht wie die meisten anderen Mitschüler in der Wiener Innenstadt. Erst bei einem Matura-treffen nach 25 Jahren habe ich verstanden, dass ich in der Klasse mit den Kindern von vielen Nazis war.“
Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Wien hatte die Familie Smolka nach ihrer Rückkehr keine. Die ehemals blühende jüdische Gemeinde Wiens mit über 200.000 Mitgliedern war bis auf ganz wenige Überlebende der Shoah vollkommen ausgelöscht. „Rund hundert Jüdinnen und Juden haben in Wien überlebt, als U-Boot irgendwo versteckt. Nur ganz wenige Juden lebten damals noch in Wien.“
Das große Schweigen in Österreich nach dem Krieg
Die Rückkehrer:innen waren nach 1945 in Wien nicht willkommen. Das offizielle Österreich unternahm nichts, um die Verfolgten wieder zurückzuholen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen kamen die vertriebenen jüdischen Familien nicht wieder in ihre Heimatstadt zurück. Familien wie die Smolkas waren unbequem, irgendwie ungemütlich. So kurz nach dem Krieg wollte man in Österreich das Geschehen lieber ganz schnell vergessen. Man wollte nicht mehr darüber sprechen, sondern endlich nach vorn schauen und einfach weitermachen. Zu groß war es, „das schlechte Gewissen einer gesamten Nation“, erinnerte sich der Wiener Schriftsteller und Theater-direktor Ernst Lothar in seinem Buch „Das Wunder des Überlebens“. Man wollte bloß nicht mehr an diese Jahre des Schreckens erinnert werden, sondern lieber unter sich bleiben.
In diesem Nachkriegsschweigen wuchs Timmy auf. In der siebten Klasse im Gymnasium an der Stuben-bastei wurde im Biologieunterricht über Rassismus in den USA gesprochen. Der etwas ältere Biologieprofessor meinte diesbezüglich nur, dass so etwas in Österreich niemals möglich wäre. Der damals 17-jährige Timmy gab zu bedenken, dass vor nicht wenigen Jahren Menschen in Konzentrationslager deportiert und umgebracht wurden. „Sei nicht so lächerlich“, erwiderte der Biologie-professor damals. „Du leidest unter Verfolgungswahn. So etwas gab es bei uns nie!“
„Es war ein Verschweigen, ein Wegblenden, ein Wegschauen. Es war die Einstellung von ganz vielen Menschen damals in Österreich, den jüngeren wie den älteren. Sie wollten mit der Geschichte nichts mehr zu tun haben. Das Bewusstsein, dass da etwas Schreckliches passiert ist, war einfach nicht da!“, erinnert sich Timmy an seine Schulzeit.
Doch nicht nur in Wien, sondern auch in den Familien der Vertriebenen und Ermordeten wurde geschwiegen. Der hebräische Schriftsteller Aharon Appelfeld schreibt in seinem Buch „Geschichte eines Lebens“: „Menschen meines Alters haben ihren Kindern nur sehr wenig von ihrem früheren Zuhause erzählt und davon, was ihnen im Krieg widerfahren ist. Ihre Lebensgeschichte lag in ihnen verborgen, doch sie verheilte nicht. Sie wussten nicht, wie sie zu dem Dunkel ihres Lebens ein Tor öffnen sollten, und so entstand die Mauer zwischen ihnen und ihren Nachkommen.“
Timmy Smolkas Familie war anders. „Meine Eltern haben sehr viel mit uns geredet. Auch über die Shoah. In manchen Familien konnte nicht darüber gesprochen werden – bei uns schon. Wir haben alles besprochen. Meine Mutter hat uns vieles erklärt. Sie war eine Kämpferin, die sich immer für uns eingesetzt hat und uns beigebracht hat, den Mund aufzumachen und uns auch für andere Menschen einzusetzen.“
Das Wunder des Überlebens durften nicht alle aus der Großfamilie des lebensbejahenden und fröhlichen Buben erfahren. Viele der Tanten und Onkel, Geschwister der Großeltern und deren Kinder und Enkel, die nicht rechtzeitig nach Palästina, England, in die USA oder Brasilien geflohen sind, wurden in Auschwitz ermordet. Nur ganz wenige der großen Familie kamen nach der Shoah wieder zurück nach Wien.
Eine ganz besondere Liebe zwischen Brüdern
Die Brüder haben das gemeinsam Erlebte ganz unterschiedlich aufgefasst. „Mein älterer Bruder hat sein Leben lang nie verstanden, warum uns die Eltern während des Krieges allein nach New York geschickt haben. Das hat er ihnen nie verziehen. Auch nach dem Krieg nicht. Ich verstehe es. Ich glaube, ich würde es nie machen, die Kinder wegschicken. Aber es gab damals viele Kindertransporte von Wien nach England und in die USA. Viele der Kinder haben so überlebt. Auch mein Onkel Michael, der mit einem Kindertransport von Wien nach London fahren musste. Viele der Eltern, die zurückgeblieben sind, wurden ermordet.“ In den 1960er-Jahren reiste die Pflegemutter, Merle Haas, nach Wien, um die Buben zu besuchen. „Sie hat mich sehr geliebt!“
Das Verhältnis zu seinem älteren Bruder war gut, wenn auch nicht immer einfach. „Ich glaube, er war immer ein bisschen eifersüchtig auf mich. Er dachte, dass ich es leichter hatte als er. Aber wir haben immer zusammengehalten, auch wenn es dazwischen Streit gab. Einmal hat er mich auf dem Schulweg geschlagen. Ein fremder Mann auf der Straße hat daraufhin mit ihm geschimpft. Doch ich sagte ganz überzeugt: ,Lassen Sie ihn bitte in Ruhe. Er darf das. Er ist schließlich mein älterer Bruder.‘ Jahre später, im Februar 1989, spendete ihm Timmy eine Niere und schenkte seinem Bruder damit fünfzehn weitere Lebensjahre. “
Antisemitismus während des Studiums – und danach
Nicht nur die Smolkas, sondern auch Tausende Nazis kehrten nach dem Krieg zurück zum Alltag, zum normalen Leben, zur gewohnten Tagesordnung. Sie waren überall, als Lehrer:innen an Schulen, als Ärzt:innen in Spitälern, als Angestellte in großen Unternehmen und als Professoren an der Universität.
An der rechtswissenschaftlichen Universität in Wien verloren unmittelbar nach dem „Anschluss“ mehr als die Hälfte der Professoren und Dozenten ihre Lehrbefugnis, da sie Juden waren. An der medizinischen Fakultät waren es fast siebzig Prozent – und mit ihnen unzählige Studierende, die das Universitätsgebäude von einem auf den anderen Tag nicht mehr betreten durften. Beide Institutionen unternahmen nach dem Krieg nichts, um die Vertriebenen wieder zurückzuholen.
Timmy hatte bereits als Kind den Traum, Arzt zu werden. Von 1956 bis 1967 studierte er -Medizin in Wien. Auch hier war er einer von ganz wenigen -jüdischen Studierenden. „An der Medizinischen Fakultät gab es einige Professoren, die in Deutschland nicht unterrichten durften, da sie Nazis waren und ein Berufsverbot hatten, aber bei uns in Österreich mit offenen Armen empfangen wurden. Einer meiner Professoren war Leopold Breitenecker, ein Nationalsozialist und berühmter Gerichtsmediziner. Er erklärte, dass das Vergasen die humanste Art des Tötens war. Bei ihm hatte ich meine letzte Prüfung in Gerichtsmedizin.“ Der Antisemitismus war auf der Universität zu spüren. „Eher in verdeckten Kommentaren, geschmacklosen und dummen Witzen und zynischen Bemerkungen hinter meinem Rücken. Auch von Professoren, bei mündlichen Prüfungen an der Uni.“
Wann sich die Situation in Wien oder der Umgang mit der eigenen Geschichte verändert hat, ist für Timothy Smolka schwierig zu sagen. „Das hat sich eingeschlichen – nach der Waldheim-Affäre und nach Franz -Vranitzkys Rede vor dem Nationalrat 1991. Es war nie ein großer Umbruch, eher viele kleine Schritte.“
Franziska Fischer, die große Liebe in Wien
Im Jahr 1952 lernte Timmy bei einer Einladung von Freunden der Familie Franziska Fischer kennen und damit seine große Liebe. Sie war damals zwölf und er vierzehn Jahre. Franziskas Familie war kurz davor von Graz nach Wien übersiedelt, sie hatte die Shoah in Prag, Moskau und London überlebt.
Später verliebten sich die beiden ineinander und heirateten 1963, an Franziskas 23. Geburtstag, in Wien. -Timmy studierte damals noch Medizin, Franziska Rechtswissenschaften am Juridicum in Wien. 1968 kam ihre Tochter Eva auf die Welt, zwei Jahre später ihr Sohn Stefan.
Als Eva etwa zehn Jahre alt war, beschloss die junge Familie, wieder der Kultusgemeinde beizutreten. „Wir wollten nicht den gleichen Fehler machen, den meine Eltern vor vielen Jahren begangen hatten. Juden waren wir in Wien nach dem Krieg nur für die Antisemiten. Wir selbst waren ja nie Teil der jüdischen Gemeinde gewesen, da mein Vater bereits vor dem Krieg ausgetreten war. So traten wir alle der Kultusgemeinde bei, auch meine Mutter.“
Timothy Smolka wurde nicht nur ein aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde, sondern auch ein anerkannter Kinderarzt und damit ein Mensch, der sich Zeit seines Lebens für das Wohl anderer Menschen einsetzte. Rund dreißig Jahre lang arbeitete er im Hanusch-Krankenhaus und leitete dort die Kinderambulanz.
Gemeinsam mit seiner Tochter Eva gründete er 1989 den Wiener Jüdischen Chor, der heute auf der ganzen Welt, von New York über London bis Tel Aviv, auftritt. „Wir -haben immer alle gern gesungen. Musik heilt die Seele.“
Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1980 übersiedelte sein Bruder Tommy mit seiner Familie in die USA. „Er wollte nicht mehr in Wien leben. Er hat sich hier nie wirklich wohlgefühlt“, erinnert sich der jüngere Bruder. Tommys Kinder und Enkelkinder leben heute in Florida und Israel.
Seine Pflegemutter, Merle Haas, hat Timmy kurz vor ihrem Tod noch einmal in New York besucht. „Sie wollte mich noch einmal sehen. Wir sind zu ihr geflogen, sie war damals über neunzig Jahre alt. Gleich darauf ist sie gestorben.“ Timmy hat auch in Tel Aviv eine Wohnung und fliegt mit seiner Familie mehrmals im Jahr nach Israel.
Wir waren die einzigen jüdischen Kinder in der Schule. Freunde hatte ich keine.
Eva Altmann, Stefan Zweigs angeheiratete Nichte, lebt bis heute in London. Sie ist 93 Jahre alt und verwaltet den Nachlass des weltberühmten Schriftstellers aus Wien. Zwischen den beiden Familien besteht immer noch eine enge Freundschaft. Man besucht sich gegen-seitig, in London oder in Wien.
„Ich bin zufrieden!“, sagt der heute 84-jährige -Timothy Smolka. Er wirkt fröhlich und gesund, seine Augen haben etwas Heiteres, Spitzbübisches. Seit 59 Jahren ist er mit Franziska verheiratet. Die beiden leben in einer lichtdurchfluteten typischen Wiener Altbauwohnung in unmittelbarer Nähe des Stadttempels. Gemeinsam gehen sie seit vielen Jahren durch die Wiener Innenstadt, Hand in Hand. Geschichten wie die von Timothy Smolka geben Hoffnung und Zuversicht. Dass es am Ende doch gewinnt, das Leben.