Badolato, Stadt der offenen Türen

Eine süditalienische Ortschaft setzt ein Beispiel für Gastfreundschaft

Christian Schüller

Seit 25 Jahren beherbergt die süditalienische Kleinstadt Badolato Menschen, die übers Mittelmeer nach Europa geflüchtet sind. Ein viel beachtetes Modell, das sich mit der Zeit verändert hat und dabei alle Erschütterungen der italienischen Politik überleben konnte. Begonnen hatte alles mit einem Schockerlebnis. Über Nacht wurden die vierhundert Einwohner:innen des verschlafenen Städtchens vor eine unerwartete Herausforderung gestellt.

Beschützt von mittelalterlichen Mauern, liegt Badolato mit seinen dreizehn Kirchtürmen auf einem Hügel hoch über der Adria-Küste, tagsüber von Weitem sichtbar. Aber als das Schiff mit 830 kurdischen Flüchtlingen an der Küste strandete, war es schon stockfinster, eine lange, kalte Dezembernacht. Sechs Tage und sechs Nächte waren die Schiffbrüchigen unterwegs gewesen, dicht gedrängt auf einem ausgedienten Zementfrachter.

Was dann geschah, muss auf die erschöpften und hungrigen Flüchtlinge wie ein Märchen gewirkt haben. Die Bewohner:innen des kleinen Badolato halfen ihnen, an Land zu gehen, und brachten ihnen zu essen und zu trinken. Und sie öffneten ihnen ihr Dorf.

Die Schiffbrüchigen wurden versorgt und in leer stehenden Gebäuden untergebracht. Das schlug in den Medien hohe Wellen

Nicht nur die Schule, auch leer stehende Privathäuser wurden den Kurd:innen zur Verfügung gestellt. Sogar eine der wichtigsten Kirchen des Ortes, das ehrwürdige Monastero, hatte man ihnen überlassen – damit sie auf muslimische Art das Neujahrsfest feiern konnten. Wer wollte, sollte in Badolato bleiben, schlug der Bürgermeister vor. Schon am nächsten Tag wurden auf der Gemeinde siebzig Schlüssel abgegeben. Für die Gäste.

Die letzte Chance für den Ort in Kalabrien

Seit Jahrzehnten war der zauberhafte Ort in Kalabrien vor sich hingestorben. Von einst 7.000 Einwohner:innen waren nur noch 400 übrig geblieben. Die anderen waren nach Deutschland gegangen oder in die Schweiz, nach Norditalien oder nach Frankreich. Dorthin, wo es Arbeit gab und wo man in der Freizeit auch etwas Abwechslung finden konnte.

Die Bewohner:innen des kleinen Badolato halfen den Fremden, an Land zu gehen, und brachten ihnen zu essen und zu trinken.
Und sie öffneten ihnen ihr Dorf

So verkam Badolato, einst ein Schmuckstück der Region, nach und nach zur Ruine. Die reich verzierten Fassaden der Altstadt bröckelten ab, in den engen Gässchen waren keine Kinderstimmen mehr zu hören. Bis zu jenem Abend, als das Meer die Flüchtlinge an Land spülte.

Die Fremden, mit denen niemand gerechnet hatte, sollten wieder Leben zurückbringen. Aus einer leer stehenden Trattoria wurde ein kurdisches Restaurant mit einer Bäckerei. Ein kurdischer Keramiker machte sich daran, alte Fliesen zu restaurieren. Ein Ingenieur aus dem Irak richtete ein kleines Hotel ein – denn bald schon kamen Gäste aus dem Rest des Landes, um sich das Wunder von Badolato anzusehen.

Überall sonst in Italien waren Geflüchtete auf Skepsis und Ablehnung gestoßen. Rechtsparteien schlugen aus der Angst vor Fremden Kapital. „Italien den Italienern!“,
forderten sie und gewannen damit eine Wahl nach der anderen. Doch die Badolatesi waren anders. Nicht nur hatten sie sich zu einer spontanen Geste der Hilfsbereitschaft hinreißen lassen – sie blieben dabei und sahen die Veränderung ihrer Stadt mit Stolz.

1997 strandete an der Küste vor Badolato ein Schiff mit 830 kurdischen Flüchtlingen. Die Bevölkerung öffnete ihnen ihr Dorf

Unter den Neugierigen, die dieses Phänomen erforschen wollten, waren viele Journalist:innen. So spazierte auch ich im Frühling 1998 mit einem Kamerateam durch die Gassen von Badolato, sprach mit alten und neuen Bewohner:innen, folgte dem Briefträger Francesco auf seinen Runden von Haus zu Haus. Bald schon hatte er sich die neuen Namen eingeprägt: Soleiman, Nusel, Ali, Jussuf und Sherin.

Lino Bressi, der Besitzer der Bar Popolare, freute sich über die Tourist:innen, die seit Neuestem seine Stadt entdeckt hatten. „Die kommen aus der ganzen Welt, um sich unsere Kurd:innen anzuschauen.“ Sein kleines Espressolokal war immer der beste Umschlagplatz für Neuigkeiten gewesen. Aber was gab es schon groß zu erzählen in einem Ort, der immer enger wurde, an dem das Leben vorbeizugehen schien? „Wegen der Kurd:innen sind wir zu etwas Besonderem geworden. Das war unsere letzte Chance.“

Aus Erfahrung das Problem in der Fremde gekannt

Zweifellos hat es die Bewohner:innen von Badolato überrascht, dass sich neuerdings so viele Menschen für sie interessieren. Damit hatten sie nicht rechnen können, als sie, ohne lange zu überlegen, unbekannte Menschen in ihre Häuser ließen. Wäre es nicht naheliegender gewesen, dass sie die Türen fest verschließen, wie es in anderen Orten geschehen ist?

„Die meisten von uns wissen doch aus eigener Erfahrung, was es heißt, in der Fremde anzukommen und bei null anfangen zu müssen“, antwortete der Besitzer der Bar Popolare. Sieben Jahre lang haben er und seine Frau in der Schweiz gearbeitet und gespart, um sich dieses Lokal kaufen zu können. „Viele aus unserem Dorf sind irgendwann mit einem Schiff auf und davon.“

Das kalabrische Badolato liegt auf einer Anhöhe mit Blick auf das Meer. Heute wohnen hier rund 3.000 Einwohner:Innen

Das klang schön und erinnerte an eine Passage aus dem biblischen Buch Exodus: „Und bedrücke nicht den Fremden, denn ihr seid Fremde gewesen in Ägypten!“ Aber sagte Signore Bressi wirklich, was er dachte, oder nahm er Rücksicht auf das, was ein Reporter seiner Ansicht nach von ihm hören wollte? Die Erfahrung des Exils, von der er erzählte, hatten Millionen Süditaliener:innen geteilt, und doch blieb Badolato eine Ausnahme. Mir fehlte also weiterhin eine schlüssige Erklärung für die Großzügigkeit der Badolatesi, bis mich Carmelina Amato, eine 76-jährige Schneiderin, auf eine neue Spur brachte. Carmelina erzählte aus der Geschichte ihrer Stadt. Frauen hätten hier in der Vergangenheit vieles gemeinsam durchgesetzt. Stolz zeigt sie Bilder von Landbesetzungen, Straßenblockaden und Streiks.

Die Frauen von Badolato – immer politisch aktiv

Carmelina ist seit Kindestagen Kommunistin. Doch ob rot oder katholisch, das habe keinen Unterschied gemacht, wenn es darum ging, sich mit der Obrigkeit anzulegen, mit den Großgrundbesitzer:innen und deren Freunden in der Politik. „Die Straße ins Landesinnere haben wir nach dem Krieg erkämpft und auch die Wasserleitung. In wenigen Tagen haben wir die Leitung mit eigenen Händen gegraben!“ Carmelina glaubt, dass in dieser Geschichte das Geheimnis von Badolato stecken könnte. „Wenn man selbst Kraft hat, braucht man sich vor niemandem zu fürchten. Auch nicht vor Fremden!“

Seit einem Jahr unterstützt Carmelina eine kurdische Familie, obwohl sie selbst sehr bescheiden leben muss. „Was soll ich denn machen? Wenn ich das Fenster offen habe, höre ich ihre Kinder. Die tun mir so leid, ich kann es mir fast nicht anhören.“ So bringt sie der kurdischen Mutter jeden Tag Brot, Käse, Mortadella und Kartoffeln. „Was ich halt so habe …“

Als das Flüchtlingsschiff strandete, war auch die Olivenbäuerin Rosa Lentini unter den ersten Helfer:innen gewesen. Ein Jahr später wirkt sie allerdings ein wenig ernüchtert. „Leider interessiert sich keiner von ihnen für die Feldarbeit“, klagt sie. So bleibt ihr nichts anderes -übrig, als weiterhin allein zu wirtschaften.

Zehn Jahre hatte Rosa in einer Schweizer Lebensmittelfabrik gearbeitet, ihr Mann sogar 26 Jahre. Mit ihren Ersparnissen kauften die Lentinis eine Menge Land mit 300 Olivenbäumen. Doch kaum ist Rosas Mann in Pension gegangen, da war er auch schon tot. Die Kinder sind in der Schweiz geblieben. Gern hätte sie es gesehen, dass der eine oder andere von den Flüchtlingen ihr zur Hand geht. Trotzdem will sie über die neuen Bewohner:innen von Badolato kein schlechtes Wort verlieren. „Gute Leute sind das“, meint sie. „Diese Muslime kommen mir besser vor als so manche Christen!“ Nicht ein einziges Mal habe sie sich bedroht gefühlt. Wenn es mit der -Verständigung auch nicht immer klappte – an Konflikte zwischen Einheimischen und Zuwanderer:innen konnte Rosa sich nicht erinnern.

Das Wunder von Badolato wird verlängert

Dass Menschen, die es gewohnt sind, couragiert zu handeln, weniger Angst vor Fremden haben, gefiel mir. So konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die Geschichte von Badolato wieder aufzugreifen, als ich zehn Jahre später daran ging, meine alten Reportagen für ein Buch neu aufzubereiten. („Unter Außenseitern“, Kremayr & Scheriau). Doch inzwischen hatte Badolato sich verändert.

Von den 339 Kurd:innen, die sich nach dem Stranden der Ararat in Badolato niedergelassen hatten, waren nur einige wenige dageblieben. Das kurdische Restaurant hatten Italiener übernommen, die kalabresisch und nicht mehr orientalisch kochten. Die Keramikwerkstatt war geschlossen. Carmelina, die streitbare Schneiderin, gestorben.

Dennoch wirkte die Stadt nun weniger desolat als vor der Ankunft des Flüchtlingsschiffes. Denn inzwischen hatte die Regierung in Rom fünfhunderttausend Euro überwiesen, um einige der baufälligen Häuser zu sanieren und damit Arbeitsplätze zu schaffen.

Auch wenn die meisten Kurd:innen nach Norden weitergezogen waren, wo es bessere Chancen gibt, sich ein neues Leben aufzubauen, war Badolato ein Ort des Willkommens geblieben, wo bodenständige Bäuerinnen und Bauern und Handwerker:innen mit Fremden zusammenlebten. Nun sorgte eine italienische NGO dafür, dass Geflüchtete mit begrenzter Aufenthaltserlaubnis nach Badolato kamen, um sich einzugewöhnen. Das Wunder von Badolato, das monatelang durch die Medien gegeistert war, sollte verlängert werden, um zu zeigen, wie Integration funktionieren kann.

Die Badolatesi waren allerdings nun in eine neue Rolle geschlüpft. Sie waren nicht mehr spontane Gastgeber:innen, sondern hatten jetzt einen Auftrag zu erfüllen, der von anderswo kam. „Avvocati della inclusione“ nannten sich die freiwilligen Helfer:innen, die mit Unterstützung der Regierung in Badolato ein Büro einrichteten. Mehrmals im Jahr wurden Feste der Begegnung veranstaltet, mit Musikkapellen, reichhaltigem Buffet und großem Medienrummel. Selbstverständlich waren die Bewohner:innen zu diesen Festen eingeladen. Aber es waren nicht mehr ihre Feste.

Aus dem Miteinander wurde Nebeneinander

Nach wie vor ernteten die Badolatesi viel Lob für ihre Toleranz. Sogar für den Friedensnobelpreis wurden sie vorgeschlagen. Doch die Aufgabe, die sie unter den Augen einer breiten Öffentlichkeit erfüllen sollten, war schwieriger geworden. Die neuen Gäste wurden von vornherein nur auf begrenzte Zeit in Badolato untergebracht. Familien waren nicht dabei. Es waren -ausschließlich -alleinstehende Männer, und die kamen aus Nigeria, Somalia und Senegal.

Aus dem Miteinander war nun ein Nebeneinander geworden. Tagsüber bei der Feldarbeit kam man den Fremden etwas näher. Morgens holten die Bauern auf der Piazza die jungen Afrikaner ab, um sie zur Arbeit zu bringen und am Abend wieder abzuliefern. Als Saisonarbeiter konnten die Geflüchteten etwas Geld verdienen, und für die Bauern waren sie eine willkommene Hilfe.

Von den dreihundert Bewohner:innen musste fast alle im Lauf der Jahre Journalist:innen erklären, was an Badolato so besonders ist, und das hat mit diesen Menschen wohl etwas gemacht. Das Besondere gehört zu ihrem Alltag

Aber abends auf der Piazza, dem Hauptplatz von Badolato, trennten sich die Welten. Zwar kreuzten sich dort weiterhin die Wege der alten und der neuen Bewohner:innen, doch die jungen Männer aus Afrika blieben in einer Ecke des Platzes, wo sie ihre Musik hörten und Bier tranken. Der Rest der Piazza gehörte den Einheimischen. Man blieb auf Abstand und tauschte hin und wieder verstohlene Blicke aus. „Es ist nicht mehr wie früher“, klagte der Besitzer der Bar Popolare. „Es gibt kaum Kontakt zwischen uns.“ Aber wenn die Herzlichkeit auch nachgelassen hatte, kam doch keine Missstimmung auf. Anderswo in Italien hatte die Ankunft junger Männer aus Afrika zu einem politischen Rechtsruck geführt. Nicht so in Badolato. Der neu gewählte Bürgermeister verstand sich wie sein Vorgänger als Anwalt der Inklusion, auch wenn er selbst in Rom wohnte und nur am Wochenende auftauchte.

Wie sehr die Badolatosi sich weiterhin mit ihrer Rolle identifizierten, zeigte sich 2010 bei der Aufregung um den Film „Il Volo“ („Der Flug“). Der berühmte deutsche Filmemacher Wim Wenders war nach Badolato gekommen, um der accoglienza (Gastfreundschaft) ein filmisches Denkmal zu setzen.

Wenders war überzeugt davon, in Badolato ein zukunftsträchtiges Modell entdeckt zu haben. Die Gemeinde unterstützte das Filmprojekt aus dem eigenen Budget. Groß waren die Erwartungen.

Doch kurz vor Beginn der Dreharbeiten überlegte es sich der Starregisseur anders. Lieber wollte er eine andere kalabresische Ortschaft zeigen, Riace, wo der Bürgermeister dabei war, das Modell Badolato nachzuahmen. Optisch gab das zwanzig Kilometer entfernte Riace sogar etwas mehr her als Badolato. Die Badolatesi waren enttäuscht, und Bürgermeister Parretta schrieb einen wütenden Brief. „Im Namen der Menschen von Badolato bin ich verletzt und fühle mich vor den Kopf gestoßen!“

Badolato in einer wissenschaftlichen Aufarbeitung

Nach diesem Protest, der noch einmal für Schlagzeilen sorgte, verlor ich Badolato für lange Zeit aus den Augen. Der Arabische Frühling hatte neue Fluchtrouten durch Nordafrika Richtung Mittelmeer geöffnet, und nun richtete sich die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf überfüllte Boote, die im Meer kenterten, und die schrecklichen Verhältnisse auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa.

Selbst in Italien schien niemand mehr an die schöne Geschichte von Badolato zu denken. Da erfuhr ich eines Tages von einer jungen norwegischen Anthropologin, die sich entschlossen hatte, für ein halbes Jahr nach Badolato zu übersiedeln, um das Zusammenleben von Einheimischen und Fremden aus der Nähe zu erforschen. Ein Vierteljahrhundert nach dem Schiffbruch der Ararat lebt das Experiment weiter, erzählt Jenny Jomisko de Figueiredo in ihrer Masterarbeit.

Mit dem nüchternen Blick einer Forscherin untersucht sie den Mikrokosmos der Kleinstadt und zeigt, was zwischen Eingesessenen und Fremden möglich ist und was schiefgehen kann, wie Integration funktionieren könnte und woran sie leicht scheitert, im Kleinen wie im Großen.

Viele der Bewohner:innen, die ich damals kennenlernen durfte, sind inzwischen gestorben. Dafür sind einige in Badolato Geborene aus dem Exil zurückgekehrt, um Haus und Hof ihrer Eltern zu übernehmen, so wie der Sohn der Olivenbäuerin Rosa. Er bemüht sich, mit den jungen Afrikanern auch freundschaftliche Beziehungen zu pflegen und nimmt sie hin und wieder zu einem Ausflug mit. Doch damit bleibt er eine Ausnahme.

Die meisten Bewohner:innen von Badolato halten zu den Fremden Abstand. Gearbeitet wird gemeinsam, gegessen aber getrennt. Die Zuwanderer versorgen sich selbst, kochen und essen meist miteinander, spielen abends Karten und schauen Fußball. Nicht anders als die Einheimischen, doch in getrennten Räumen. In der Bar Popolare, dem wichtigsten Treffpunkt des Städtchens, lassen sich die jungen Afrikaner kaum blicken.

So sind sie auch nicht dabei, wenn die älteren Männer frühmorgens beisammenstehen und lange darüber diskutieren, wer wen auf den nächsten Kaffee einladen darf, was, nach langen Debatten, jedes Mal zu einer weiteren Runde führt. Von solchen Ritualen, die Nähe stiften, seien die Migranten ausgeschlossen, stellt die norwegische Anthropologin fest.

Auch wenn die Badolatesi zum großen Teil nicht wohlhabend sind, hat Großzügigkeit bei ihnen einen hohen Stellenwert. Die afrikanischen Zuwanderer hingegen kommen kaum in die Lage, sich großzügig zu erweisen. Einerseits verdienen sie bei der Feldarbeit nur ein paar Euro. Andererseits legen sie von dem wenigen noch Geld beiseite, um die zurückgebliebenen Verwandten zu unterstützen.

Was sie hinter sich haben und aus welcher Welt sie kommen, erfahren die eingesessenen Bewohner:innen kaum, und wenn, dann über den Sohn der Olivenbäuerin, der sich hin und wieder ausführlicher mit den „ragazzi“ unterhält. Er kennt Geschichten wie die von Eric aus Kamerun, der schon früh seine Eltern verloren hat. Mehrmals hatten kriminelle Banden versucht, das Waisenkind anzuwerben, und die Verwandten schützten Eric nicht, aus Angst, selbst Schwierigkeiten zu bekommen. So riss er mit fünfzehn von zuhause aus. Seine Flucht führte über Nigeria, Benin, Niger, Algerien Marokko und Libyen. Von Lager zu Lager, bis zur Überfahrt nach Italien auf einem überfüllten Gummiboot.

Bei den Parlamentswahlen gewinnen zwar, wie anderswo in Italien, die Rechtsparteien an Boden. Doch anders als in den Reden von Salvini, Meloni und Co. ist es im Ort bisher zu keiner Front gegen die Fremden gekommen

Als Erntearbeiter in Badolato wird Eric es nicht lange aushalten. Wie die anderen jungen Afrikaner, mit denen er sein Zimmer teilt, sehnt er sich nach einer Partnerschaft. Junge Frauen sind hier kaum zu sehen, und selbst wenn, ist es besser, um sie einen Bogen zu machen. Die Anthropologin wurde Zeugin, wie ein flüchtiger Gruß zwischen einem der afrikanischen Burschen namens Osman und einem einheimischen Mädchen schnell zum Eifersuchtsdrama eskalierte. Osman hatte einer jungen Frau, die auf der Piazza an ihm vorüberging, nur ciao zugerufen, und sie erwiderte ebenso freundlich. Daraufhin wurde ihr Begleiter wütend, und so wäre es beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen.

Als es dann doch einmal zu Gemeinsamkeit kommt

Das Aufeinandertreffen von Muslim:innen und Katholik:innen, anderswo ein konfliktreiches Thema, scheint im Alltag von Badolato keine große Rolle zu spielen. Die meisten Badolatesi nehmen es mit dem Kirchenbesuch nicht mehr so genau. Umso mehr überrascht es sie, zu sehen, wie diszipliniert Osman, Suleyman und die anderen muslimischen Zuwanderer ihren Fastenmonat Ramadan einhalten.

Zwar gebe es unter den jungen Männern unterschiedlich strenge Auffassungen über die Einhaltung muslimischer Regeln, berichtet die Forscherin. Bier oder Wein zu trinken sei für die meisten kein Problem. Aber im Ramadan würden sich die jungen Männer gegenseitig dazu ermahnen, stark zu bleiben. Vielleicht auch, weil sie bemerkt haben, dass ihnen das bei den Einheimischen Ansehen verschafft. „Den ganzen Tag arbeiten, ohne zu essen und zu trinken, das könnte ich nie!“, sagen manche Badolatesi anerkennend.

Respekt verschafften sich die Afrikaner auch, als sie sich kurz vor Ostern freiwillig an der Verschönerung des Ortes beteiligten. In der „semana santa“ wird in den Gassen von Badolato der Leidensweg von Jesus Christus nachgestellt, in historischen Kostümen und fantasievoll ausgeschmückt. Wer nicht als Jesus, Judas oder als römischer Soldat in Frage kommt, darf trotzdem mitspielen, indem er ein Büßergewand überzieht und sich zum Rhythmus der Trommler leichte Peitschenhiebe versetzt.

Um dieses Ritual mitzuerleben, kehren viele ausgewanderte Badolatesi jedes Jahr für ein paar Tage an den Ort ihrer Kindheit zurück, besuchen die Verwandten und kostümieren sich auf traditionelle Art. Die afrikanischen Zuwanderer beteiligen sich nicht an der Prozession. Aber als es darum ging, rechtzeitig vor der Zeremonie die Straßen zu fegen, Unkraut auszureißen und Müll zu entsorgen, waren Osman, Suleyman und Eric mit dabei. Weil sie als stark und ausdauernd gelten, durften sie die anstrengenderen Arbeiten übernehmen, genau beobachtet von den Einheimischen.

Parteipolitik scheint im Alltag von Badolato wenig Platz zu haben. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass die Stadtverwaltung in den letzten fünfundzwanzig Jahren so oft ausgetauscht wurde. Mehrere Bürgermeister mussten zurücktreten, weil die Justizbehörden in Rom ihnen Verbindungen zur ’Ndrangheta nachgewiesen hatten, der kalabresischen Mafia und mächtigsten Mafia-organisation Europas.

Bei den Parlamentswahlen gewinnen zwar, wie anderswo in Italien, die Rechtsparteien an Boden. Doch anders als in den Reden von Salvini, Meloni und Co. ist es im Ort bisher zu keiner Front gegen die Fremden gekommen. Wie schon die Schneiderin Carmelina mir vor einem Vierteljahrhundert sagte, werde man sich von niemandem vorschreiben lassen, wen man fürchten oder lieben soll.

Anders als ich nach meinem ersten Besuch glauben wollte, ist Badolato keine heile Welt. Inklusion ist größtenteils ein Schlagwort geblieben. Aus dem viel gepriesenen „paese della accoglienza“, dem Ort der Gastfreundschaft, wurde eine Durchgangsstation. Die überschaubare Welt von Badolato ermöglicht Nähe und macht zugleich die Grenzen deutlich.

Trotzdem ist das Experiment nicht gescheitert. Vieles hätte in den letzten fünfundzwanzig Jahren schiefgehen können. Anderswo genügt ein Zwischenfall, um lange gehütete Vorurteile gegen Fremde durchbrechen zu lassen. Das ist nicht geschehen. Einige wenige Mitglieder der Gemeinschaft haben vorgezeigt, wie man sich auch auf Neues einstellen kann, und andere haben sich mit der Zeit überzeugen lassen.

Im pittoresken Bergstädtchen werden nach und nach Altstadthäuser restauriert und in Ferienwohnungen verwandelt

Ohne die Vorgeschichte, die Badolato über Nacht berühmt gemacht hat, wäre es wohl nicht möglich geworden, eine so große Zahl von Zuwanderern zu beherbergen. Von den dreihundert Bewohner:innen musste fast jede/r im Lauf der Jahre Journalist:innen erklären, was an Badolato so besonders ist, und das hat mit diesen Menschen wohl etwas gemacht. Das Besondere gehört zu ihrem Alltag.

Als die norwegische Anthropologin nach einem halben Jahr Badolato verließ, luden ihre italienischen Freunde zu einem Fest. Und da geschah etwas, was es in den Jahrzehnten davor noch nicht gegeben hatte. Die jungen Afrikaner kochten Couscous, Huhn und Pasta für das ganze Dorf. Weil sie in ihren kleinen Wohnungen nicht genügend Platz hatten, mussten sie in die Küche einer italienischen Frau ausweichen. Italienische Nachbarn kamen vorbei, um den afrikanischen Köchen zu helfen. Es gab genug zu essen und trinken für alle, und nach dem Festmahl wurde bis spät in die Nacht miteinander getanzt.  

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