Allein auf der Welt

Der New Yorker Physiker Josef Eisinger erzählt von seiner abenteuerlichen Flucht als unbegleiteter Jugendlicher

Christian Schüller

Wenn der New Yorker Josef Eisinger von seinen Wiener Kindertagen erzählt, sprudelt es aus ihm heraus. Dann tauchen Straßennamen auf, Speisen und Gerüche, Bubenstreiche, Lieder und Gedichte. „Homing“ nennt man es, wenn es einen Menschen unwillkürlich an den Ort seiner Herkunft zurückzuzieht – ein Phänomen, das den Physiker und Biologen an das instinktive Verhalten von Schmetterlingen und Fischen erinnert. Dabei hätte Josef Eisinger allen Grund, die Stadt seiner Kindheit aus dem Gedächtnis zu streichen.

Die Reise des Fünfzehnjährigen ins Ungewisse

Fünfzehn Jahre war er alt, als seine Eltern ihn fortschickten, um ihn vor den Nazis zu retten. Würden sie einander jemals wiedersehen? Im Mai 1939 waren die Möglichkeiten, ins Ausland zu fliehen, für Jüdinnen und Juden bereits sehr eingeschränkt. Nur mit viel Glück hatte Josefs Vater einen Weg gefunden, den Teenager auf einem sogenannten Kindertransport nach England zu schicken. Kein anderes Land war damals bereit, jüdische Kinder aufzunehmen.

Die letzten Tage in Wien müssen hektisch verlaufen sein. Was sollte der Bub nach England mitnehmen? „Nur ein kleiner Koffer war erlaubt. Es wurde sehr viel überlegt, was ich einpacken sollte. Reitstiefel von meinem Vater waren dabei, und ein Stopfschwammerl, damit ich meine Socken stopfen kann.“ Die Stiefel stammten ebenso wie das Stopfschwammerl aus dem Ersten Weltkrieg, in dem Rudolf Eisinger vier Jahre lang für Österreich gekämpft hatte.

Entgegen der Vorschriften packte der Teenager -seine Briefmarkensammlung ein. Bilder von der Familie nahm er nicht mit. Noch wusste er nicht, dass seine Eltern nicht nachkommen würden. „Mein Vater hat immer Optimismus ausgestrahlt“, erzählt Josef -Eisinger heute. „Ganz anders als meine Mutter, die den Vater immer gedämpft hat.“ Sie war es, die den Sohn zum Bahnhof brachte. Eine zweite Begleitperson war nicht erlaubt.

Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Polizisten und Gestapo-Leuten, die darauf aus waren, in den Koffern der Kinder Geld oder verbotene Gegenstände -aufzustöbern. Den Angehörigen wurde eingeschärft, beim Abschied -keine Gefühle zu zeigen, andernfalls würde der Transport abgesagt. Als die Kinder eingestiegen waren, machte sich -einer der Nazi-Aufseher einen Spaß daraus, sie zum Singen eines bekannten deutschen Volksliedes zu zwingen: „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …“

Mit 98 Jahren immer noch nirgendwo zuhause

Das Gespräch mit Josef Eisinger führe ich übers Internet, aber die Liebenswürdigkeit des 98-jährigen Professors und sein ansteckendes Lachen ließen die siebentausend Kilometer Entfernung bald vergessen. Zusammen mit seiner Frau, der der Cellistin und Musikwissenschaftlerin Styra Avins, lebt Eisinger in einem zweihundert Jahre alten Townhouse im New Yorker Greenwich Village. Doch immer noch pendeln seine Gedanken zwischen der Alten und der Neuen Welt hin und her. „Meine Frau wundert sich oft: Du fühlst dich nirgendwo zu Hause. Und das ist eigentlich wahr.“ Mit zweiundneunzig hat er sich an den Computer gesetzt, um zum ersten Mal über seine Jugendjahre zu schreiben. „Flight and Refuge“ hat er sein Buch genannt, das unter dem Titel „Flucht und Zuflucht“ auch in Wien erschienen ist. Flott und pointiert erzählt er, nüchtern und detailreich, ohne etwas zu beschönigen, aber mit viel Humor und Distanz. So, als ginge es ihm darum, den vielen Brüchen in seinem Leben einen festen Rahmen zu geben, sie einzuordnen.

Mit zweiundneunzig hat er sich an den Computer gesetzt, um zum ersten Mal über seine Jugendjahre zu schreiben. „Flight and Refuge“ hat er sein Buch genannt, das unter dem Titel „Flucht und Zuflucht“ auch in Wien erschienen ist „

In unserem Gespräch kommt er mehrmals da-rauf zurück, dass er und seine nächsten Angehörigen es viel besser erwischt hätten als andere jüdische Familien. -Onkel Wilhelm, Lokomotivführer im südmährischen Lundenburg (heute Břeclav), wurde von den Nazis ebenso umgebracht wie Onkel Johann, der im niederösterreichischen Zistersdorf einen kleinen Viehhandel betrieb, und dessen Frau, wie überhaupt ein Großteil seiner Verwandschaft.

Das letzte Jahr von Josef Eisinger in Wien

In den letzten Monaten vor seiner Flucht hatte Josef Eisinger erlebt, wie die Welt um ihn mit jedem Tag enger wurde. Schon wenige Tage vor dem sogenannten Anschluss klopften zwei Hitler-Jungen an die Tür und verlangten von ihm, sein khakifarbenes Pfadfinderhemd herauszugeben. Die Pfadfinder-Organisation war in Nazi-Deutschland aufgelöst worden. Von nun an durfte es nur mehr die Hitler-Jugend geben. Sein Gymnasium in der Stubenbastei wurde für den Unterricht geschlossen, um deutsche Soldaten einzuquartieren. Als es wieder aufgesperrt wurde, durften -jüdische Kinder nicht mehr dort lernen. In die geräumige Wohnung in der Reisnerstraße im bürgerlichen Bezirk Landstraße war von der „Kristallnacht“ an eine weitere Familie aus der Leopoldstadt eingezogen, gute Bekannte, die sich aus Angst, verhaftet zu werden, nicht mehr nach Hause wagten.

Josefs Eltern standen selbst ohne Einkommen da. Ihr gut gehendes Geschäft für Schwämme und Toilettenartikel aller Art hatten die Nazis ihnen einfach weggenommen. Dabei habe sein Vater noch Glück gehabt, nicht verhaftet zu werden, sagt Josef Eisinger. Vielleicht, weil er unterm Rock seine Tapferkeitsmedaille trug.

Wenn Josef Eisinger heute über sein letztes Jahr in Wien erzählt, dann betont er, wie viel er in dieser Zeit gelernt hat. Lernen musste. Zuhause erlebte er mit, mit wie viel Geschick und Tatendrang seine Eltern sich an die neuen Lebensumstände anpassten. „Als Jude konnte man ein Visum bekommen, wenn man einen guten Beruf hatte. Also hat mein Vater die Uhrmacherei gelernt. Ich selbst wurde Elektriker und Schmied“, erzählt nicht ganz ohne Stolz der emeritierte Physikprofessor. In die Lehre ging er bei einem jüdischen Schmied. Nachdem dieser aus dem niederösterreichischen Zistersdorf ausgewiesen worden war, gab er in Wien Kurse für Leute, die ausländische Visa brauchten. Geschadet habe ihm der Umgang mit Hammer und Amboss nicht, fügt Eisinger rasch hinzu. „Ich habe in den darauffolgenden Jahren noch viele Handwerke gelernt. Lernen war ein Motto meines Lebens, bis ich zwanzig Jahre alt war und ein Student wurde.“ Auch als Wissenschaftler habe er mehrfach umgesattelt – vom Physiker zum Mikrobiologen, von der Grundlagenforschung bei Bell Labs zur Professur an der Mount Sinai School of Medicine. „Es ist schon eine gute Erziehung, wenn man als Fünfzehnjähriger ganz auf sich selbst gestellt ist.“

Josef und Ilse Eisinger 1930 in Wien

Weil der Familie Eisinger bald das Geld ausging, musste der Vierzehnjährige neben der Lehre auch etwas dazuverdienen. Als Fahrradbote für ein paar Wiener Kaffeehäuser balancierte er auf dem Rücken ein Gestell mit Schachteln voller Cremeschnitten und Punschkrapfen durch die Stadt.

Nachts lernte er die brutale Seite des damaligen Wien kennen. Juden, die ausreisen wollten, mussten Tag und Nacht Schlange stehen, um die nötigen Papiere zu bekommen, und wurden im Dunkeln oft von Nazis attackiert oder festgenommen. Weil Kinder weniger zu fürchten hatten als Erwachsene, kam es vor, dass der Vierzehnjährige um Mitternacht aufstand, um für Bekannte oder Verwandte einen Warteplatz zu reservieren. Das Leben des gut behüteten Gymnasiasten war ein für alle Mal vorbei und die Zukunft völlig ungewiss.

Eisinger-Kinder auf der Flucht – mit Hindernissen

Auch wenn Josef Eisingers Vater ein unverbesserlicher Optimist war, setzte er doch alles daran, seine Kinder in Sicherheit zu bringen. Über einen ehemaligen Lieferanten, der in England lebte, fand er einen sephardischen Juden namens de Costa, der bereit war, für Josefs ältere Schwester Ilse die Garantie zu übernehmen. Damit kam die Siebzehnjährige nach London, um als Au-Pair-Mädchen Lesley bei Herrn de Costa zu arbeiten.

Wenige Monate später willigte Herr de Costa ein, auch für Josef die Patenschaft zu übernehmen. Ohne Zeit zu verlieren, wurde Josef auf die Reise geschickt. Es muss die Eltern beruhigt haben, zu wissen, dass ihre beiden Kinder bald zusammen sein würden und einander helfen könnten. Doch bei der Ankunft an der Londoner Liverpool Street Station war alles anders. Zwar hatte Herr de Costa für Josef gebürgt, und für die Ausreise aus Nazi-Deutschland reichte das, aber ein weiteres Kind bei sich aufnehmen wollte er nicht. So schmuggelte er den Buben an den Einwanderungsbeamten vorbei aus dem Bahnhof. Das war für Josef Eisinger besser, als zurückgeschickt zu werden, was ihm gedroht hätte, sollte er keinen Paten haben. Das Wiedersehen mit der Schwester dauerte nur kurz. „Mehr kann ich für dich nicht tun, du bist jetzt auf dich allein gestellt“, waren Herrn de Costas letzte Worte.

Der Fünfzehnjährige galt damit nach englischem Recht als „enemy alien“, als feindlicher Fremder, wie jeder, der einen deutschen Pass hatte. Über andere Emi-granten fand er eine Stelle an einer Landwirtschaftsschule, wo er den ganzen Tag Kartoffeln schälte und andere Hilfsarbeiten verrichtete. Von dort wurde er an einen Bauernhof in Yorkshire vermittelt, wo schwere Arbeit auf ihn wartete. Rund um die Uhr wurde er herumkommandiert. Sein Schlafplatz war eine ungeheizte Dachkammer, zum Waschen hatte er ein Stein-becken, das sonst zum Schweineschlachten diente.

Das Schlimmste war die Einsamkeit. Im Gymnasium hatte er ausreichend Englisch gelernt, um sich in London durchschlagen zu können. Doch der Dialekt von Yorkshire war noch einmal etwas anderes. Die Söhne der Bauern waren um einiges älter und mussten selbst hart arbeiten. Weit und breit war niemand da, mit dem der Fünfzehnjährige sein Heimweh und seine Sorge um die Eltern teilen hätte können. Also erfand er für sich -einen Weggefährten. Mit seinem kargen Lohn kaufte er für drei Penny ein Heft – sein Tagebuch, das er bis heute aufbewahrt.

Das rettende Tagebuch aus der Zeit in England

Am Anfang hat er seine Eintragungen auf Deutsch geschrieben.

[22 Oct. 1939] Liebes Tagebuch! Ich fasste den Entschluss, dich zu beginnen aus Einsamkeit. Das klingt etwas geschwollen, aber es ist so. Ich will, dass Du mir immer ein guter Freund bist, ein Tröster in traurigen Stunden. Ich habe Dich gerne, und Deine Aufgabe wird es sein, alle -meine Erinnerungen und Erlebnisse festzuhalten, sodass Du für mich wertvoller wirst als für andere Menschen, denn ich kaufte Dich um 3 Pennies bei Woolworth. Ich hoffe, das -genügt als Vorwort und du wirst mich bald näher kennenlernen! Ein paar Tage später vertraute Josef seinem Tagebuch an, dass er dabei war, seine Muttersprache zu verlernen. Kurz vor seinem ersten Winter in England kamen spärliche Nachrichten aus Wien.

[26 Nov. 1939] Am 10. war ich bei einer Chanukkah-Feier in Harrogate. Von den Eltern habe ich gehört, dass sie vielleicht nach Palästina gehen, ich warte auf Details. Es dauerte aber einen weiteren Monat, bis er Genaueres erfuhr.

[25 Jan 1940] Erhielt heute endlich einen Brief von den l. Eltern, sie sind in Preßburg (Bratislava) und warten auf Weiterreise nach Palästina. Allerdings ist der Brief vom 28. XII. Dadurch, daß die l. Eltern von Wien weg sind und die Wohnung aufgegeben haben, ist noch ein Faden zwischen mir und Wien gerissen. Ich habe aber die Hoffnung noch einmal hinzukommen noch nicht aufgegeben. Er ahnte natürlich, dass der Brief von den Nazis gelesen wurde und nicht die ganze Wahrheit enthielt, die er erst nach dem Krieg erfuhr.

Von Churchill hinter Stacheldraht gebracht

Dank seiner Schwester Lesley fand Josef Eisinger eine neue Stelle als Tellerwäscher in einem Hotel in Brighton. Wieder musste er sich unterordnen. Wenn er sich beschwerte, weil er ungerecht behandelt wurde, hörte er nur: Fuck off! Aus dieser Erfahrung der Ohnmacht hat Josef Eisinger einen Schluss gezogen: „Man soll nie die unterste Schicht einer Hierarchie sein. Auch nicht die höchste. Die mittlere passt mir.“ Zusammen mit einem Wiener Freund schmiedete er Pläne für bessere Zeiten, wenn sie eines Tages wieder nach Wien zurückkehren würden können. Doch der Krieg rückte weiter nach Westen. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals, in Dünkirchen, hatten die Nazis den letzten Brückenkopf britischer und französischer Truppen eingekesselt. Als Vorsichtsmaßnahme für den Fall einer deutschen Invasion ließ Churchill alle „enemy aliens“ zwischen 16 und 60 internieren, die sich in der Nähe der Küste aufhielten.

„Wir wollten den Kanadiern klarmachen, dass wir Nazi-Gegner waren und nicht Kriegsgefangene“ 

Als Josef Eisinger gerade sechzehn wurde, holten ihn prompt britische Polizisten von seinem Arbeitsplatz, um ihn in ein Lager zu bringen. Damit begann eine weitere Odyssee – von einem improvisierten Lager zum nächsten. Doch das Leben hinter Stacheldraht brachte auch eine erfreuliche Abwechslung. Josef Eisinger war nicht mehr allein. Zum ersten Mal seit seiner Flucht aus Wien hatte er wieder junge Leute aus Österreich und Deutschland um sich. „Ich konnte ja vorher mit niemandem Deutsch sprechen. Als ich interniert wurde, hat sich das geändert. Aber was wir gesprochen haben, war eine komische Mischung aus Deutsch und Englisch.“

In einem weiteren Lager in Huyton bei Liverpool litt der Sechzehnjährige zum ersten Mal Hunger. Seine tägliche Brotration musste er aufteilen, um durch den Tag zu kommen. Aber in Huyton traf er auch mit Walter Kohn zusammen, einem ehemaligen Mitschüler vom Akademischen Gymnasium. Es war der Beginn einer -lebenslangen Freundschaft mit dem späteren Physiker und Nobelpreisträger für Chemie.

Auch wenn er jetzt einen wirklichen Freund hatte, gab Josef Eisinger sein Tagebuch nicht auf.

[Ende Mai 1940] Inzwischen läuft der Krieg für die Engländer schlecht. Das Leben hier geht mir wirklich auf die Nerven, auch wenn ich einige nette Leute kennengelernt habe. Nicht frei zu sein ist schrecklich und du verstehst den Wert der Freiheit erst, wenn du sie verlierst.

Josef Eisinger und sein Freund Walter Kohn wurden auf die Isle of Man verlegt, wo sie sich mit drei anderen ein Zimmer teilten – und mit einem Klavier, das aus unerfindlichen Gründen noch da war. Unzählige Pianisten übten auf dem Instrument den ganzen Tag. Die neuen Bewohner des Zimmers mussten darauf bestehen, dass nach zehn Uhr nicht mehr gespielt wurde. Zeitung lesen und Radio hören war nicht gestattet, aber was an Nachrichten durchsickerte, klang deprimierend. Nach der Kapitulation Frankreichs wurden französische Flüchtlingslager an die Nazis übergeben. Sollte es zu einer Invasion Großbritanniens kommen, könnte das auch ihnen passieren.

„In einem weiteren Lager in Huyton bei Liverpool litt der Sechzehnjährige zum ersten Mal Hunger. Seine tägliche Brotration musste er aufteilen, um durch den Tag zu kommen“

Schließlich in Kanada – und die Eltern in Palästina

Im Sommer 1940 wurden Eisinger und Kohn schließlich als Häftlinge nach Kanada verschifft, gemeinsam mit einigen ihrer neu gewonnenen Freunde und mit deutschen Kriegsgefangenen, wenn die beiden Gruppen auch durch Stacheldraht voneinander getrennt waren. In Kanada gelang es den jüdischen Jugendlichen erst nach einem Jahr, die Lagerbehörden davon zu überzeugen, dass sie keine Nazis waren. Einige ältere Häftlinge organisierten Kurse, die für das Studium an einer -kanadischen Universität vorbereiteten. Josef Eisinger war gleich dabei. Sein Freund Walter Kohn coachtee ihn in -Physik. „Er hatte schon Physik studiert, und da dachte ich: Das ist ein wunderbares Fach. Da kann man in gewissen Grenzen erfahren, was wahr ist und nicht Propaganda. Das hat mich in dieser verwirrten Welt angezogen, und so studierte auch ich Physik.“ Im kanadischen Lager wurde auch Josef Eisingers -Liebe zur klassischen Musik geweckt, eine Leidenschaft, die er später mit seiner Frau Styra teilen sollte.

Dank der Gruppe schien Josef Eisinger wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Nur seinem Tagebuch vertraute er an, wie es in ihm drinnen aussah. Weil er von furchtbaren Luftangriffen auf London gehört hatte, machte er sich Sorgen um seine Schwester. Und auch von den Eltern wusste er nichts.

Manchen Stellen im Tagebuch klingen so, als würde sich ein Erwachsener mit einem Kind unterhalten. So schrieb Josef von häufigen Stimmungsschwankungen, fügte dann aber hinzu, solche Zustände wären albern. „Es war ein innerer Konflikt“, erinnert sich Josef Eisinger über achtzig Jahre später. „Ich wusste noch nicht, wie meine Zukunft ausschauen würde und ob meine Eltern am Leben waren.“

Bald begann Josef Eisinger, seine Tagebucheinträge auf Englisch zu schreiben. Ohne dass ihm das aufgefallen wäre, hatte er im Kopf eine Grenze überschritten. Im März 1941, an seinem siebzehnten Geburtstag, erfuhr er schließlich, dass seine Eltern nach einer abenteuerlichen Fahrt gut in Palästina gelandet waren. Vor der Küste hatten sie Schiffbruch erlitten, aber beide waren gerettet worden, obwohl sie nicht schwimmen konnten. „Mein Vater hatte es geschafft, vom Rumpf des Schiffes in ein Rettungsboot zu rutschen.“

In Palästina machte Rudolf Eisinger wieder, was er in Wien vor dem Anschluss getan hatte: Er importierte und verkaufte Schwämme. Zehn Jahre später gelang es Josef Eisinger, den Eltern und der Schwester ein kanadisches Visum zu verschaffen. „Sie sind nach Toronto gekommen, und mein Vater hat wieder angefangen, Schwämme zu verkaufen. Er war unerbittlich …“

Eisingers Erinnerungsarbeit in der -Wienerstadt

Als Wissenschaftler in Kanada und den USA durfte Josef Eisinger seine Neugier, seinen Tatentrang und sein Talent zum Teamgeist ausleben. Er baute Brücken zwischen Physik, Biologie und Medizin und erwarb sich hohes Ansehen in der wissenschaftlichen Community.

Im Grunde hätte er die düsteren Orte seiner Kindheit und Jugend und die beklemmenden -Momente -hinter sich lassen können. Aber das wollte er nicht. Sorgfältig ging er daran, seine komplizierte Beziehung zu Wien zu klären. Minutiös sortierte er positive und negative -Erlebnisse und Erinnerungen, die seine ersten achtzehn Lebensjahre geprägt hatten. „Ich habe die Zeit, die ich hinter Stacheldraht verbrachte, immer als eine ,gute Sache‘ in meinem Leben gesehen“, schrieb er 2016 in seinen Lebenserinnerungen.

Josef Eisinger und seine Frau Styra Avins in ihrer Wohnung, NY

„Wenn nicht schon die Emigration, dann hat die Internierung mir den Wert der Anpassungsfähigkeit an geänderte Bedingungen vor Augen geführt – eine Lehre, die Charles Darwin verstanden hatte … Diese Monate der Internierung haben nicht nur mein Leben in eine neue Richtung gelenkt, sondern haben mir auch die große Vielfalt der Menschheit aufgezeigt. Wie sonst würde man Zirkusakrobaten, Seefahrer und Mathematikprofessoren auf Augenhöhe kennen-lernen?“

Aber Josef Eisinger blieb nicht beim Schreiben von Erinnerungen. Er setzte sich auch persönlich mit dem Wien der Gegenwart auseinander, besuchte die Stadt oft und hielt sich in seiner alten Gegend auf.

Zufällig traf er dabei einmal den Hausbesitzer der früheren Wohnung und wurde von ihm gefragt: „Aber sagen Sie mir, Herr Eisinger, warum haben Sie eigentlich Wien verlassen?“ Doch mit der Zeit erlebte er auch ein anderes Wien, wie vor ein paar Jahren beim Besuch des Akademischen Gymnasiums. „Auf einmal fand sich der einst aus Wien verstoßene Schüler in der Rolle des Erzählers, dem nicht nur die Jugendlichen aufmerksam zuhörten, sondern auch die Lehrenden – heutzutage überwiegend Frauen –, sehr charmante, wunderbare Personen. Ich habe einige von ihnen gut kennengelernt, und das hat mich davon überzeugt, dass sich viel verändert hat.

Die schier unglaubliche Bindung an Wien

Als Naturwissenschaftler, dem auch Geschichte am Herzen liegt, beschäftigte sich Josef Eisinger mit der unglaublichen Bindung der Juden an Wien.

„Eine Frau aus Zistersdorf sagte: „Ich erinnere mich noch an die Eisinger. Die waren sehr beliebt!“ Aber nicht beliebt genug“

„Zuerst war 1421 die Gesara, dann wurden 1670 wieder alle Juden aus Wien rausgeworfen. Auch Maria-Theresia hat Juden rausgeworfen. Sie sind aber nie sehr weit weg gewandert. Zum Beispiel sind sie nach Mähren gegangen, und sobald sie eine Möglichkeit hatten, zurückzukommen, kamen sie zurück. Und das war auch bei meinem Vater der Fall. Er ist in Zistersdorf in die Schule gegangen, wollte aber gerne nach Wien. Schließlich ist es ihm gelungen.“

Nachdem das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes Eisingers Memoiren übersetzt und verteilt hatte, hörte er von einer Nachbarin in Zistersdorf: „Ich erinnere mich noch an die Eisingers. Die waren sehr beliebt!“ „Aber nicht beliebt genug“, fügt Josef Eisinger trocken hinzu.

Seine eigenen Kinder wollen um die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen. Sohn Simon ist Architekt in New York, Tochter Alison kümmert sich als Sozial-arbeiterin um Obdachlose in Seattle. „Das Soziale hat sie von ihrer Mutter, die auch politisch sehr engagiert ist. Besonders jetzt, wo sie die Politik in Amerika für sehr gefährlich erachtet. Ich habe mich eher zurückgezogen. Ich habe zu viele andere Sachen zu tun. Ich überlasse es ihr, wem sie unsere Dollars spendet.“          



Lesetipp:
Josef Eisinger, Flucht und Zuflucht
Erinnerungen an eine bewegte Jugend,
DÖW 2019, doew.at

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