Das Verbrechen der Auslöschung

Über die Notwendigkeit der Erinnerung an die ermordeten
Roma und Sinti


Doron Rabinovici

Dort waren Roma und Sinti gewesen, dort waren sie ermordet worden. Meine Mutter hatte – ich war wohl noch ein Halbwüchsiger – sie irgendwann erwähnt, als es um die Vernichtung im Lager ging. Sie hatte nicht die Worte Roma und Sinti verwendet. Diese Begriffe waren damals noch weithin unbekannt. Auch ich lernte sie erst später kennen. Wir gebrauchten die Bezeichnungen, die ebenfalls die Täter benutzt hatten.

„Widerstehen“ – 1995 das Motto einer Kundgebung anlässlich der Bombenanschäge von Oberwart, bei denen vier Roma starben
 

Mutter erzählte nie ausführlich von den Massenmorden, doch ich erinnere mich, wie sie einmal oder vielleicht sogar zweimal von den Roma und den Sinti dort begann und dann wieder – unvermittelt – verstummte. Ganze Familien und Sippschaften, von den Kleinsten bis hin zu den Greisen, ob Frauen oder Männer – sie waren alle umgebracht worden. Ohne lange zu fackeln …

Ich weiß nicht mehr, weswegen Mutter davon anfing, denn sie sagte in meiner Jugend kaum irgendetwas über das, was ihr und den Ihren angetan worden war. Auch damals war es wahrscheinlich nur ein Satz von ihr, nicht mehr – und dann ihr Innehalten, doch eben dieses Schweigen bedeutete mir, dem Burschen, der ich war, mehr als jedes Wort.

Vom Brudervolk der Roma sprach stets Rudolf Gelbard, der als Jugendlicher nach Theresienstadt zwangsverschleppt worden und dem Massenmord entronnen war. Simon Wiesenthal schwieg gleichfalls nicht von diesem Genozid. Er versorgte den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit Dokumenten, die notwendig waren, um frühere SS-Mörder in den Verfahren zu überführen. Er steuerte Beweise gegen Pery Broad bei, gegen den einstigen Leiter der „Politischen Abteilung“ in Auschwitz, verantwortlich für das Ermorden und Verbrennen von 3.000 Roma.

Vier junge Männer aus der Roma-Siedlung kommen hier in der Nacht vom 4. auf 5. Februar 1995 ums Leben
 

Geprägt vom Denken und Fühlen dieser Überlebenden verfasste ich im Herbst 2021 für die Zeitung Der Standard einen „Kommentar der Anderen“, in dem ich beklagte, dass auf der Namensmauer für die -österreichischen Opfer der Shoah nicht auch der Roma und Sinti gedacht wird, die vernichtet wurden.

Auf 160 Granittafeln wird die Erinnerung an die 64.440 ermordeten jüdischen Österreicher:innen aufgerufen. Die Eröffnung im November 2021 war ein offizielles Ereignis, das im öffentlich-rechtlichen Rundfunk übertragen und über das in allen Medien berichtet wurde. Jene, von deren Tod kein Grab je künden wird, sind hier aufgelistet und haben einen weithin sichtbaren Platz gefunden, an dem sie je einzeln und gemeinsam betrauert werden können.

Bundeskanzler Franz Vranitzky besucht vier Tage nach dem Anschlag die Roma-Siedlung in Oberwart

Die Namensmauer ist indes nicht der erste Ort, der jenen gewidmet ist, die als jüdische Österreicher:innen ausgelöscht wurden. Seit dem Jahr 2000 steht am Judenplatz das Werk von Rachel Whiteread. Viele, die aus anderen Ländern herkommen, um hier nach den Spuren jüdischen Lebens zu suchen, stoßen auf dieses Monument. Die nach außen umgestülpte und in sich verschlossene Bibliothek setzt uns all dem aus, was untröstlich bleibt und jenseits aller Vorstellung liegt. Es ist gerade diese Verweigerung, mit der sich Whitereads Arbeit jeglicher Auflösung versperrt, die überzeugt.

Mutter erzählte nie ausführlich von den Massenmorden, doch ich erinnere mich, wie sie einmal oder vielleicht sogar zweimal von den Roma und den Sinti dort begann und dann wieder – unvermittelt – verstummte

Da ist auch das Mahnmal auf dem Areal des ehemaligen Aspangbahnhofes, auf dem festgehalten ist, dass von den 47.035 hier Deportierten nur 1.073 überlebten. Seit 2002 sind zudem im Vorraum des Wiener Stadttempels die Namen der Ermordeten zu lesen. Hier trauert die Kultusgemeinde selbst um das, was und wer sie einst war. Das ist die wohl intimste dieser Trauerstätten in der Stadt. Was hier in Stein gehauen ist, beansprucht nicht viel Raum und erregt auch kaum allgemeines Aufsehen. Ein Totenbuch aus drehbaren Schiefertafeln, in dem geblättert werden kann.

Das Leid der Roma wird immer noch verschwiegen

Während mehrere Orte im Zentrum Wiens den jüdischen Opfern gewidmet sind, erhielt die Erinnerung an die ermordeten Roma und Sinti immer noch keinen würdigen Platz in dieser Stadt. Da ist zwar ein Gedenkstein im Favoritner Barankapark, doch der ist nur jenen Familien gewidmet, die von dort in die Konzentrationslager deportiert wurden. Ein angemessen würdiger Ort für alle ermordeten Roma und Sinti im Zentrum fehlt.

Michael Racz, Oberwarts Bürgermeister, Kanzler Franz Vranitzky, Landeshauptmann Karl Stix und Roma-Vertreter Rudolf Sarközi in Oberwart

Vielleicht war es Ceija Stojka, die mich erkennen ließ, wie ungeheuerlich es ist, wenn vom Leid ihres Volkes nicht die Rede ist. Ich traf in den frühen 1990er-Jahren auf diese Romni. Damals wurden ihre Bilder im Amerlinghaus zum ersten Mal ausgestellt. Ich weiß das genaue Datum nicht mehr, doch ich sollte – so wollte es Ceija – bei der Vernissage ein Gespräch mit ihr führen. Ich weiß noch, wie stark sie auftrat und mit wie viel kluger Ironie, ja, mit welchem Sarkasmus sie meine Fragen zu beantworten wusste. Die jüdische Gemeinschaft habe es zumindest geschafft, meinte Ceija, als Opfer wahrgenommen zu werden. Die Geschichte ihrer Leute bliebe aber ausgeblendet. Wo, so fragte Ceija mich, sei die Solidarität derer geblieben, die doch gemeinsam in den Vernichtungslagern gelitten hatten?

Im Jahr 2021 war wenige Wochen, ehe die Wiener Namensmauer enthüllt wurde, auch eine in Amsterdam eingeweiht worden. In den Niederlanden war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, auch alle Opfer der Roma aufzulisten. Aber es war bezeichnend und keineswegs eine bloße Unachtsamkeit, dass in Österreich allein die jüdischen Opfer Erwähnung fanden. Wie lange hatte es hier, in jenem Land, das Hitlers Heimat und eine Brutstätte des Nationalsozialismus gewesen war, gedauert, bis die Erinnerung an die Shoah einen würdigen Platz erhielt?

Noch im Jahr 2000 war das Mahnmal am Judenplatz auf heftigen Widerstand gestoßen. Damals hatte die FPÖ gegen die Erinnerung an die Shoah mobilisiert. Erst 2018 kam die türkis-blaue Regierung dem Wunsch des Überlebenden Jakob Tutter nach. Die Freiheitlichen vermeinten, mithilfe des Gedenkens vergessen machen zu können, wie tief der Antisemitismus in ihrer Partei weiterhin verankert ist. So sollte von den vielen sogenannten Einzelfällen abgelenkt werden, in denen deutlich wurde, welche Kontinuitäten einschlägiger Vergangenheit in diesem ideologischen Lager noch weiterwirken.

Auf der Namensmauer sind – recht prominent – Bundeskanzler und Bürgermeister erwähnt. Wenn im Sommer 2019 nicht ein Video aus Ibiza aufgetaucht wäre, auf dem der freiheitliche Parteiobmann offen dargelegt hatte, wie er dem Rechtsstaat, der unabhängigen Presse und der liberalen Demokratie den Garaus zu machen gedenke, wäre wohl auch der Name jenes kurzzeitigen Vizekanzlers zu lesen gewesen, der noch wenige Jahre zuvor am 8. Mai, dem Tag des Sieges über den Nationalsozialismus zur Kundgebung am Heldenplatz lud, um das Ende des Krieges und die Niederlage der Wehrmacht zu betrauern. Als Vizekanzler huldigte er 2018 dem Mythos von den selbstlosen und vollkommen schuldfreien Trümmerfrauen und enthüllte auf einem Privatgrundstück an der Mölkerbastei eine Skulptur, mit der die Stadt Wien zu Recht nichts zu tun haben möchte, weil sie nichts als Geschichtsklitterung ist.

Ceija Stojka (mit Therezija Stoisits) anlässlich zehn Jahre Anerkennung der Sinti und Roma als Volksgruppe durch den Nationalrat

Wen wundert’s, wenn es der türkis-blauen Regierung kein besonderes Anliegen war, die Opfer der Roma zu ehren. Die Hetze gegen Roma gehört weiterhin zum Repertoire der FPÖ. 2020 verbreitete der Vizeklub-obmann der -steirischen Freiheitlichen, Stefan Hermann, ein Hassvideo gegen Roma und vergaß nicht, seinem Posting beizufügen: „Unsere Großeltern nannten sie Zigeuner.“

Ach ja, die Großeltern … Zu deren Zeit hatte wohl der stellvertretende Gauleiter der Steiermark, Tobias Portschy, seine Denkschrift unter dem Titel „Die Zigeunerfrage“ verfasst. Portschy war Vordenker des Massenmords. 1949 wurde er zu fünfzehn Jahren schweren Kerkers verurteilt, doch schon 1951 amnestierte ihn Bundespräsident Theodor Körner. Er wohnte als geachteter Bürger in Rechnitz und – wie könnte es denn anders sein? – als Mitglied der FPÖ. Noch Anfang der 1990er-Jahre prahlte Portschy damit, die Roma den Juden gleichgestellt zu haben, denn die gehörten alle weg. Portschy sagte in die Kamera: „Die Zigeuner sind keine Menschen.“

Ausgrenzung in der Ersten und Zweiten Republik

1940 begann die Deportation von Roma und Sinti aus dem Deutschen Reich. Hunderttausende Roma und Sinti wurden im nazistischen Europa ermordet. Nach 1945 wurde den Roma in Österreich kein Mitgefühl entgegengebracht. Im Gegenteil. Die Ausgrenzung in der Zweiten Republik schloss an jene in der Ersten an. Nicht wenige, die ohne Papiere der Vernichtung entronnen waren, galten, da sie über keine Ausweise verfügten, nun als „staatenlos“, weshalb sie außer Landes geschafft werden sollten. Dieser Erlass gegen, wie es hieß, „das Zigeunerunwesen“ stammte nicht von Nazis, sondern von der neuen Koalition in Wien. Es wurde 1948 vom sozialistischen Innenminister Oskar Helmer verfügt. Auf Entschädigung durften Roma lange nicht hoffen. Was Roma bis 1945 von staatlichen Stellen angetan worden war, wurde nach 1945 von staatlichen Stellen angezweifelt.

Der Terrorist irrte sich nicht. Er irrte sich nicht in uns. Wäre es heute denn so sehr anders? Wie viele von uns sind bereit, für jene, die als Roma und Sinti in Europa verleumdet und verfolgt werden, einzustehen?

Keineswegs überwunden ist, was in den Massenmord führte. 1995 – noch lebte Portschy unweit des Tatorts – –
tötete eine Bombe vier Oberwarter Roma. Die Polizei fiel – ungeachtet des eindeutig rassistischen Schildes an der Sprengfalle: „Roma zurück nach Indien“ – in die Häuser der Hinterbliebenen ein, frei nach dem Motto: „Verdächtig und schuldig ist allemal der Rom.“

Jörg Haider verkündete sogleich, die Motive fürs Verbrechen seien die Stammesfehden und die Volkssitten der Opfer. Kurz darauf zog bei einem Welser Faschingsumzug eine Truppe mit, deren Verkleidung allen Feindbildern entsprach. Der Moderator höhnte: „Bitte jetzt keine Bomben werfen!“ Die Menge johlte.

Als die Opfer des Attentats in Oberwart begraben wurden, drängte die Presse mit ihren Kameras und -Mikrophonen nach vorne, hindurch zwischen den Hinterbliebenen, den Persönlichkeiten aus der hohen Politik, den vielen anderen, die herbeigeströmt waren, darunter auch ich. Ich erinnere mich daran, wie eine junge Romni einen der vielen Journalisten anfuhr: „Steigen sie gefälligst vom Grab herunter. Sie stehen auf meinem Großvater!“ Die Trauer der Nächsten wurde überlagert von der Sensationsgier und Schaulust einer Öffentlichkeit, die nie an jenen, die nun bestattet wurden, interessiert gewesen war, solange sie gelebt hatten.

Der Attentäter von Oberwart, der jene Bombe damals installiert hatte, konnte damit rechnen, dass nur ein Rom oder eine Romni versuchen würde, die Tafel zu entfernen, auf der die Hassparole stand. Es war dem Mörder klar, wer in der burgenländischen Gemeinde ausgegrenzt war, und wer allein sich angesprochen fühlen würde. Der Terrorist irrte sich nicht. Er irrte sich nicht in uns.

Wäre es heute denn so sehr anders? Wie viele von uns sind bereit, für jene, die als Roma und Sinti in Europa verleumdet und verfolgt werden, einzustehen? Mit dem Hass auf Roma kann in vielen Ländern der Union der Gegenwart Politik gemacht werden. Auch in Österreich sind Roma weiterhin ausgegrenzt und diskriminiert. Die Hetze gegen sie gehört immer noch zum gesellschaftlichen Konsens.

Roma und Sinti sind die eigentlichen Europäer

Ich konnte im Laufe meines Geschichtsstudiums lernen, wie Entrechtung und Verfolgung auch nach 1945 weiterwirkten. Auf meinen Lesetouren und Reisen in Bulgarien, in Ungarn, doch auch in Tschechien musste ich sehen, wie Roma dort behandelt wurden. Ich hörte, wie abfällig viele Menschen dort von ihnen redeten.

Dabei gibt es kein Volk auf diesem Kontinent, das die Überwindung der engen nationalen Grenzen und die Integration der europäischen Union besser repräsentiert. Roma und Sinti sind die eigentlichen Europäer – im besten Sinne des Wortes. Die Hetze gegen sie im vereinten Europa richtet sich gegen das in liberaler Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vereinte Europa selbst, richtet sich gegen uns alle innerhalb der Union.

Aber die Ressentiments stoßen auch auf Widerstand. Ein neues Selbstbewusstsein gewinnt an Kraft. 1991 durfte ich miterleben, wie im Republikanischen Club – Neues Österreich, dessen Sprecher ich seit 1986 bin, der Verein Romano Centro gegründet wurde. Erst durch meine Freundschaft mit dem großartigen Musiker Harri Stojka und seiner Frau Valerie konnte ich jedoch mehr vom Leben und von der Kultur der Roma verstehen, denn zuvor war es eher ihre Leidensgeschichte gewesen, der ich nachgegangen war. Gemeinsam traten wir auf; Harri musizierte mit seiner Band und ich las aus meinen Texten. Mein Vater stammte aus dem moldawischen Rumänien und die Weisen, die er stets gesungen hatte, waren auch von den Rhythmen und Tönen durchwirkt, denen ich nun lauschen durfte, wobei Harris Klangwelt und Virtuosität eine Eigenwilligkeit und Vorstellung kennzeichnen, die mich sogleich überwältigten.

Als mich wiederum Matthias Hartmann aufforderte, eine Textcollage aus den Erinnerungen jüdischer Überlebender zusammenzustellen, um die Aufführung „Die letzten Zeugen“ auf die Bühne zu bringen, bestand ich darauf, dass der Massenmord kein jüdisches Verbrechen gewesen sei, sondern ein nationalsozialistisches. Ich forderte ein, auch eine Erinnerung einzufügen, die das Schicksal der Roma schildern sollte. Es brauchte eine eigene und starke Stimme, die hier zu Wort kommen sollte. War es ihr Neffe Harri, der mich sogleich an Ceija denken ließ? Oder brachte mich vielleicht eher Valerie auf die Idee? Ich kannte den Film „Ceija Stojka“. Die Regisseurin Karin Berger dieser Dokumentarproduktion war es, die mir die Bücher von Ceija näherbrachte. Einzigartig sind ihre Beschreibungen dessen, was ihr und den Ihren zugefügt worden war. „Wir leben im Verborgenen“ hieß ihre erste Veröffentlichung. Besonders eindringlich für mich war das kleine Bändchen: „Träume ich, dass ich lebe? Befreit aus Bergen-Belsen“. In einem der Gedichte von Ceija Stojka heißt es: „auschwitz ist mein mantel, / bergen-belsen mein kleid / und ravensbrück mein unterhemd. / wovor soll ich mich fürchten?“

Michael Horvath, der beim Anschlag zwei Enkel verlor, im Gespräch mit Bundeskanzler Franz Vranitzky

Ceija Stojka verstarb vor der Premiere der Aufführung „Die letzten Zeugen“, doch ihr Sessel blieb leer auf der Bühne, darauf ihr Schal. Ceijas Erinnerungen wurden von einer Schauspielerin des Burgtheaters verlesen. Am Ende der Vorstellung war es eine Tonaufnahme von Ceija Stojka, die zu hören war. Ihre Stimme erklang: „Es heißt immer, die Roma werden irgendwann einmal untergehen, in hundert oder zweihundert Jahren wird es keinen mehr geben. Da sage ich: ‚Nein, weil die bringt Kinder und die bringt Kinder und sie geben unsere Tradition weiter.‘“

Ceija hatte das letzte Wort. Ganz zum Schluss erklärte sie: „Ich bin sehr froh, dass mein Sohn Hojda unsere alten Lieder kennt. Er spielt auf der Gitarre, und Nuna, seine Frau, und Wilma (Ceijas Enkelin) singen dazu. Ich bin sehr glücklich darüber, dass sie diese -Tradition weiterpflegen. Wenn ich bei ihnen bin, spür’ ich, da sind mein Vater und meine Mutter, da sind meine Geschwister, und auch mein Großvater und meine Großmutter sind da. Alle, die nicht mehr sind, sind da und fühlen sich wohl.“

Ceija Stojka hatte recht. Es gibt eine neue Generation von Roma und Romnja, die jene alten Gesänge kennen und nicht verstummen, sondern das Wort ergreifen. Viele von ihnen kämpfen an gegen die Geschichtslügen, gegen den Rassismus und stehen selbstsicher zu ihrer Herkunft und ihrem Sein. Da ist etwa der Schriftsteller und Musiker Samy Mago, der mütterlicherseits jüdisch, doch dem Vater nach ein Rom ist. Da ist die Politologin Mirjam Karoly, die für Minderheitenrechte in ganz -Europa eintritt. Da sind die Sängerinnen, Rapperinnen, Regisseurinnen und Schauspielerinnen, die Schwestern Simonida und Sandra Selimovic. Ich könnte viele nennen, und alle verlangen sie das Gedenken an den Genozid ein. Sie fordern ein Mahnmal im Zentrum Wiens. Unerträglich ist, dass es nicht schon längst existiert.

Ein Mahnmal im Zentrum Wiens muss her!

Es steht mir nicht zu, einen bestimmten Ort oder eine konkrete Gestaltung vorzuschlagen. Einfallen könnten mir manche Plätze in der Inneren Stadt, die umgestaltet werden sollten. Raum ist hier vorhanden, und diesmal braucht es eine internationale Ausschreibung mit einer unabhängigen Jury, die auch Romani-Persönlichkeiten umfasst – und eine Ausstellung der verschiedenen Entwürfe.

Nein, kein Monument kann – so viel ist klar – dem, was den Opfern widerfuhr, ganz gerecht werden, doch nichts rechtfertigt, sich deshalb der Aufgabe nicht zu stellen. Im Gegenteil: Wer der Ermordeten nicht gedenkt, löscht sie abermals aus und mehrt noch weiter das namenlose Leid. Es geht darum, den Roma und ihrer Erinnerung endlich einen würdigen Platz zuzuerkennen.

Manche werden nun einwenden, dass es doch falsch sei, wiederum nur eine Gruppe herauszugreifen und nicht aller Ermordeten gleichermaßen zu gedenken. Zweifellos gilt es alle durch den Nazismus Verfolgten zu ehren, ob sie ihrer sexuellen Orientierung wegen, als Zeugen Jehovas, aufgrund ihrer Krankheit und Behinderung, ob sie als asozial Gebrandmarkte umgebracht wurden. Warum sollten ihre Namen nicht auch auf einer jener Granittafeln stehen?

Aber zugleich sollte klar sein, dass die Genozide sich von den anderen nazistischen Verbrechen unterscheiden. Die verwaltete Auslöschung all jener, denen aufgrund ihrer Herkunft die reine Existenz abgesprochen wurde, der maschinelle Massenmord, die – wie Hannah Arendt sagte – „Fabrikation von Leichen“ war das bis dahin Unvorstellbare. Es geht hier nicht um eine Hierarchie der Leidensgeschichte. Aber die jeweiligen Opfer gilt es auch nicht zu vermischen. Jede einzelne Verfolgung kann nur in ihrer jeweiligen Besonderheit begriffen werden. Wer den Nazis politischen Widerstand entgegensetzte, wer nicht zum Wehrdienst bereit war, wer schlicht Menschlichkeit bewies und etwa Untergetauchten half – unter Einsatz des eigenen Lebens –, konnte zumeist begreifen, für das Regime ein Feind zu sein. Homosexualität stand unter Todesstrafe, wobei auch unter den Tätern sich sehr wohl Schwule fanden.

Der Plan aber, ein ganzes Volk zu vertilgen, vom Säugling bis zum Greis, die gesamte Erde von ihm säubern zu wollen, als wäre es eine Abart von Ungeziefer, war es, wofür es bis dahin noch keinen Begriff gab. Der Terminus Genozid wurde für diesen Tatbestand erst 1944 von dem Juristen Raphael Lemkin geprägt. Die Mörder wollten alle Roma und Sinti auslöschen. Nichts sollte von ihnen übrig bleiben. Wer der Erinnerung an das, was ihnen angetan wurde, keinen Raum gibt, wird zum Komplizen der Nazis und ihres Verbrechens.

Es geht gar nicht darum, für die ermordeten Roma und Sinti irgendetwas zu fordern, was anderen Opfergruppen verwehrt wird. Es gibt mehrere Monumente, die der Shoah gewidmet sind; es existieren verschiedene -Mahnmale für den Widerstand; auf dem Ballhausplatz steht eine abstrakte Steinstruktur in der Form eines X für die – namenlos gemachten – Deserteure; in der Heilanstalt am Spiegelgrund leuchten 772 Lichtstelen für jene, die im Namen angeblicher Volksgesundheit getötet wurden; am Alsergrund findet sich eine Bücherinstallation für homosexuelle Deportierte und im Resselpark am Karlsplatz soll ein grauer Regenbogen für sie errichtet werden.

Wieso wird dann aber just den Roma und den Sinti verweigert, was anderen zuerkannt wird? Die Antwort auf diese Frage ist leicht zu erteilen und schwer zu ertragen. Der Hass auf Roma und Sinti wird im Europa der Gegenwart weiterhin gehegt und gepflegt. Ihr Leid wird achtlos hingenommen, als wäre es ein Naturphänomen.

Eben deshalb brauchen sie eine eigene Gedenkstätte im Zentrum Wiens, einen Ort und ein Kunstwerk der Erinnerung, ein Zeichen des Respekts vor den ermordeten Roma und Sinti – doch nicht zuletzt auch eines der Anerkennung für die lebenden. Es ist schon längst an der Zeit.     

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