Wo bleiben die Hoffnungsträger? Von Werner A. Perger

 

In Europa nimmt die Demokratiemüdigkeit zu, der Rechtsstaat gerät vielerorts unter Druck, die Aufbruchstimmung der Jahre nach 1989 ist verflogen. Es gibt im politischen Leben aber auch noch Chancen, die man nicht versäumen soll.

An Krisen und Katastrophen ist kein Mangel. Die Europäische Union zeigt alle Symptome von Uneinigkeit, wirkt desorientiert, erschöpft. Bedroht wird ihr innerer Zusammenhalt insbesondere von der mangelnden Solidarität der Mitglieder angesichts der massiven Fluchtbewegung aus den Kriegs- und Notstandsgebieten des Mittleren Ostens und Afrikas in die Wohlstandszonen der einstigen Kolonialmächte. Der Westen, wie wir ihn bisher als demokratisch-politische Einheit zu kennen meinten, hat sich von den beiden politischen Schockerfahrungen – Brexit und die Wahl des Politclowns Donald Trumps – bisher weder politisch noch psychologisch erholt; die stramme Haltung gegenüber London und die steife Herzlichkeit gegenüber dem neuen US-Präsidenten täuschen nicht darüber hinweg. Ratlosigkeit kennzeichnet den Kurs von Nato und EU gegenüber Russlands protziger Außenpolitik, von der Krim-Annexion über die Ukraine-Politik bis Syrien. Der Fall des türkischen Autoritärs und Großmachtträumers Erdoğan ist mit der herkömmlichen Diplomatie und Verhandlungsroutine schadenspolitisch nicht kontrollierbar. Und mit den ähnlich exzentrischen Machtpolitikern im eigenen Europäischen Haus, zumal in Budapest und Warschau, werden die Verantwortlichen in Brüssel, Paris und Berlin, um die wichtigsten Mitspieler zu nennen, auch nicht fertig. Im Übrigen, so der Befund der amerikanischen Fachzeitschrift Foreign Affairs im April dieses Jahres, geht es auch der Demokratie als solcher nicht besonders gut. Sie habe „fraglos an Schwung verloren“.

Das ist milde formuliert. „Die große Regression“, der Titel einer kritischen Bestandsaufnahme des Suhrkamp-Verlags über „die geistige Situation der Zeit“, trifft die aktuelle Entwicklung der liberalen Demokratie, wie wir sie kennen, schon eher. Darin verheißt uns der im Jänner dieses Jahres verstorbene Soziologe und Philosoph Zygmunt Baumann gleich zu Beginn, die Lösung der akuten Weltprobleme erfordere „nichts Geringeres, als eine kulturelle Revolution: Dazu brauchen wir einen kühlen Kopf, Nerven aus Stahl und jede Menge Mut“. Was für ein Vermächtnis.

Der britisch-polnische Denker schrieb hier über die Lage einer Welt, von der wir vor bald dreißig Jahren gedacht hatten, nun begänne eine neue Phase der Demokratiegeschichte, der Aufklärung und des sozialen Fortschritts. Man könnte meinen, das sei ein gewaltiger Irrtum gewesen, nicht so sehr gestützt auf Erfahrung aus der jüngsten Geschichte als vielmehr beflügelt von Hoffnung auf bessere Zeiten. Schließlich waren auch die späten 1980er-Jahre eine Zeit der Unruhe und der Umbrüche, vor allem in Osteuropa. Die politische Klasse des Westens und die Machthaber im damals sowjetischen Machtbereich des Warschauer Paktsystems sahen darin zunächst vor allem Gefahren. Die Protestbewegungen, voran die der Solidarność in Polen, beunruhigten sie. Außenpolitiker und Ost-West-Strategen beschäftigten sich weniger mit akuten Defiziten der Demokratie als mit den neuen Menschheitsfragen wie Reichweiten von Atomraketen und Marschflugkörpern. Die Welt auf einem Pulverfass war eine zu der Zeit verbreitete Metapher.

In dieser Phase suchten die Unentwegten und Aufmüpfigen im Milieu der Bürgerrechtler und Friedensbewegten im geteilten Deutschland Trost und Ermunterung beim deutschen Dichter Friedrich Hölderlin und dessen berühmten Zeilen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Und plötzlich, im Herbst 1989, sah es so aus, als gäbe es mitten in Europa tatsächlich Grund zur Hoffnung. Man durfte plötzlich „mehr Demokratie wagen“. Das Ende der DDR war absehbar. In Polen regierten bereits die Demokraten, in Ungarn war der Eiserne Vorhang geborsten. In Prag kündigte sich, spät, aber doch, der Aufstieg des unvergessenen Václav Havel an. Zeichen der Hoffnung.

Heute, knapp drei Jahrzehnte danach, ist die Lage nicht hoffnungslos, aber anders und zweifellos ernst und weithin zitiert wird ein anderer Autor als aktueller Stichwortgeber, der englische Machtkampf-Dramatiker William Shakespeare. Düster stellt sein Hamlet, ehe er sich an die Arbeit macht, dem Freund Horatio gegenüber fest: The time is out of joint – „Die Zeit ist aus den Fugen“. Bedroht scheint alles zu sein, was uns lieb, wert und teuer ist, die soziale und die innere Sicherheit, Wohlstand und Gerechtigkeit, Friede und Fortschritt. Weit und breit er ist aber kaum jemand in Sicht, der oder die glaubwürdig den Eindruck erweckt, die bessere Welt – die von früher – wieder schaffen zu können. Und so mancher Staatenlenker, nicht nur die offenkundig überforderte britische Premierministerin, dürfte mit dem weltberühmten Dänenprinzen fühlen, den Shakespeare über die havarierte Welt seufzen lässt: „…Fluch der Pein, muss ich sie herzustell’n geboren sein!“

Doch genau das ist die historische Aufgabe für die heute Regierenden angesichts der Entwicklung seit dem Umbruch vor der Jahrtausendwende. Es geht um

  • die Rekonsolidierung des sozialen Gemeinwesens in den freien Gesellschaften,
  • die Remodernisierung der abgenützten liberalen Rechtsstaats-Demokratien, die gezeichnet sind von der democracy fatigue der Demokraten,
  • die Restabilisierung der globalen Friedensordnung.

 

Das ist die größte und schwierigste Baustelle der Gegenwart. Sie wird uns bis weit in die Zukunft in Atem halten.

Problembewusstsein ist allem Anschein nach vorhanden. Die Globalisierung mit ihrem Einfluss auf die internationalen Beziehungen und ihrer Wirkung auf die inneren Verhältnisse der nationalen Gesellschaften ist bekannt. Die klassischen Volksparteien in den älteren Demokratien bekamen das bereits früh zu spüren. Konservative Parteien schrumpften, die Christdemokraten im katholischen Italien gibt es nicht mehr. Die Tories in Großbritannien sind eben erst abgestürzt und suchen Hilfe bei Labour und nordirischen Nationalisten, die Mitte-rechts-„Republikaner“ in Frankreich wurden in diesem Wahljahr gedemütigt und die stehen mit dem Rücken zur Wand, von Skandinavien bis zur Iberischen Halbinsel.

Die Sozialdemokraten schwächeln auf dem ganzen Kontinent, in Griechenland sind sie kaum mehr existent, in Großbritannien haben sie mit ihrem Wahlerfolg überrascht, aber seither keine gestaltende Rolle gefunden. Da hilft auch kein Schwärmen für den altersfeurigen Bernie Sanders, auch er – bei aller Begeisterungsfähigkeit seiner Fans – kein Wahlsieger. Weit und breit kein europäischer Obama, sieht man ab von Emmanuel Macron: Doch der ist kein „Sozi“, war es nie, will es nicht sein, ist aber auch kein Rechter. So gesehen ein schwieriger Fall. Die „wahren Sozialdemokraten“ in ihren Hochburgen der Ratlosigkeit werfen ihm das vor, denunzieren ihn als Neoliberalen, als neuen Tony Blair oder gar als den neuen Bonaparte: irgendwie jedenfalls ein Verräter. Man kennt das. Auch Barack Obama war der Linken nicht links genug.

Der politische Liberalismus mag da und dort zwar als Partner der ausgezehrten „Volksparteien“ noch eine Rolle spielen, neuerdings wieder in Deutschland, und in den Niederlanden sogar den Regierungschef stellen. Doch in der konkreten Machtpolitik Europas spielt der Liberalismus keine Rolle mehr. Ähnlich die Grünen: Sie bemühen sich redlich, werden von linksbürgerlichen Wählern in den Großstädten noch gewählt, Tendenz sinkend, helfen politisch da und dort aus, wo es zu „progressiven“ Mehrheiten reicht, sind aber kein politischer Machtfaktor mehr, nicht einmal in den Niederlanden, trotz eines optisch eindrucksvollen Wahlergebnisses. Ökologie und Frieden als Markenzeichen ist ihnen abhandengekommen. „Grün“ sind heute alle.

Umso mehr verdient der europäische Rechtspopulismus die Aufmerksamkeit der Demokraten. Wie tritt man der rechtspopulistischen Herausforderung der neuen Autoritären in dem sich abzeichnenden antidemokratischen EU-Ostblock der der Visegrád-Gruppe angemessen entgegen? Und wie bekämpft man wirkungsvoll die neuen Herausforderer innerhalb der liberalen Demokraten, von AfD und FPÖ bis Front national. Und nicht zuletzt: Wie stoppt man die Populisten vom Typ jung, flott, modern und beliebig, wie sie sich in den ausgezehrten konservativen Altparteien zusehends profilieren?

Auch hier, wie seinerzeit in den Tagen des jungen Jörg Haider, dient Österreich als Modell. Nur der Beobachtungsfall ist anders. Diesmal geht es nicht um einen Putsch in einer kleinen Mitte-rechts-Partei mit rechtsnationalem Flügel, wie es die FPÖ Mitte der 1980er Jahre war. Das Besondere am österreichischen Fall heute ist das Einschleichen des neurechten Nationalpopulismus mit Hilfe eines populären V-Manns ins Zentrum der etablierten Politik. Statt des oppositionellen latent deutschnationalen „Putschisten“ Haider von 1986 spielt 2017 der „Österreich zuerst“-Außenminister Sebastian Kurz die Hauptrolle. Seine Vorbilder: die Hauptgegner jeder Art von „Willkommenskultur“, Ungarns Viktor Orbán und Horst Seehofer (CSU). Angela Merkel gehört nicht dazu.

Die Machtergreifung dieses flotten Dreißigjährigen ohne Studienabschluss und Berufsausbildung in der bürgerlichen ÖVP zu analysieren ist lehrreicher als das gebannte Starren auf Marine Le Pen oder Geert Wilders. Denn wie der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer in seiner neuen Streitschrift („Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft“. Fischer-Taschenbuch) schreibt: „Etablierte Politiker, die die Themen und Begriffe der Rechten übernehmen und in die Mitte der Gesellschaft tragen: Die sind das Problem, und sie waren schon früher die eigentlichen Totengräber der Demokratie.“

Und was ist mit Hoffnungsträgern? Gibt’s die? Fortschrittsdenker, Reformliberale, Veränderungsoptimisten, von denen Impulse und Initiativen ausgehen, um die Demokratien wieder flott zu machen? Ob der SPD-Mann Martin Schulz so einer ist, werden wir Ende September wissen. Ob Macron einer ist, werden wir sehen. Und Angela Merkel, die gelernte Christdemokratin, die viele Rechte in der Partei für eine verkappte Sozialdemokratin halten?

Zwölf Jahre Merkel-Kanzlerschaft, das ist „’ne Menge Holz“, wie man in Deutschland sagt. Ein Nachteil, der ein Vorteil sein kann. Vielleicht ist ja, so der Schulz-Zug nicht ankommt, gerade sie diejenige, die zusammen mit den Reformpopulisten Trudeau, Macron und den gewählten Reformbürokraten in Brüssel eine informelle Koalition der Vernünftigen zustande bringt, ein Bündnis, das den impulsgesteuerten Trump bändigt, Putin mäßigt, Orbán und Kaczyński auf den Topf setzt, den Süden ins Boot holt und Europa, das Bewegung und Fortschritt braucht, von der Austeritäts-Fußfessel befreit. Hilfreich wären dafür Wahlergebnisse, die von der Rechten, vom Original Le Pen, Wilders und FPÖ bis zu den Kopien CSU und Kurz, nicht als Erfolg angesehen werden können.

Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron vor dem Élysée-Palast: Koalition der Vernünftigen

 

Vielleicht helfen ja die Wähler. Es gibt ja immerhin Hinweise, dass nicht immer die Volkswut den Ausschlag gibt. Der amerikanische Wahlforscher Nate Silver, bekannt für seine präzisen Vorhersagen von Wahlergebnissen und plausiblen Stimmungsanalysen, hält es für möglich, dass der Schock in Europa über Trumps Wahl zum Präsidenten dazu beiträgt, dass der Rechtstrend in Europa gebremst, womöglich gebrochen ist. Das Ergebnis der österreichischen Präsidentenwahl, die enttäuschten Erwartungen des Niederländers Wilders, vor allem das Scheitern Marine Le Pens und die Pleite der Tories (und von UKIP) in Großbritannien deuten für ihn in diese Richtung.

Gewiss, die Rechtsparteien lagen bei den für sie enttäuschenden europäischen Wahlen des Jahres 2017 immer noch über ihren Werten vor zehn oder zwanzig Jahren. Aber anderseits, so Silver: Auch wenn man nicht sagen könne, Trump sei „schuld“ am Abschwellen der rechten Flut in Westeuropa, eines sei doch unübersehbar: Seit Trumps Amtsantritt blieben die Rechten in allen europäischen Wahlen hinter ihren Umfrageergebnissen zurück. Eine Reaktion, die Hoffnung zulässt? „Es ist mindestens schwieriger geworden zu behaupten, die nationale Flut steige immer noch an.“ (https://fivethirtyeight.com/features/donald-trump-is-making-europe-liberal-again).

Anders gesagt: Das hieße, opportunistisches Ranschleimen konservativer Mitte-Parteien an den nationalistischen Rechtspopulismus wird nicht belohnt. Manche Hoffnungen müssen eben bescheiden beginnen.

Werner A. Perger  – Foto: privat

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