Spätes Gedenken an die Opfer von Engerau von Claudia Kuretsidis-Haider

 

Vor zwei Jahren berichtete das „Jüdische Echo“ über die „vergessenen Toten von Engerau“, einem ehemaligen KZ auf dem Gebiet von Petržalka, einem Stadtteil von Bratislava. Nun kann die Historikerin, die das Gedenken an Engerau initiiert hat, Fortschritte vermelden.

Am 29. März 2017 haben die Justizministerin der Slowakei, Lucia Žitňanská, und die Justizminister Österreichs und Ungarns, Wolfgang Brandstetter und László Trócsányi, am Restaurant Leberfinger (in der Viedenská cesta, der Wiener Straße von Bratislava-Petržalka) eine Gedenktafel für die Opfer des Lagers Engerau – ungarische, ausschließlich männliche Juden, die beim Südostwallbau Sklavenarbeit leisten mussten – enthüllt. Die Initiative war von der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz ausgegangen. Das Erinnerungszeichen wurde vom slowakischen Künstler Vladimír Chovan (Atelier 007) gestaltet. Die Finanzierung erfolgte zur Hälfte durch den Nationalfonds und den Zukunftsfonds der Republik Österreich und durch das Österreichische Bundesministerium für Justiz. Durch eine Crowdfunding-Aktion konnte die Herstellung und Anbringung der Gedenktafel gesichert werden. 39 Personen haben sich an dieser Aktion mit Bausteinen im Wert von zehn bis hundert Euro beteiligt.

Das heutige, an der Donaupromenade gelegene Restaurant Leberfinger war von Dezember 1944 bis Ende März 1945 Teil des Lagers Engerau. Anfang Dezember kamen etwa 2000 ungarische Juden auf dem Bahnhof in Engerau an. Sie wurden in alten Baracken untergebracht, aber auch in Bauernhöfen, Scheunen, Ställen und Kellern, also direkt bei der Ortsbevölkerung. Wie in den anderen Lagern entlang des „Südostwalls“ erfolgte die Bewachung der Gefangenen durch die SA sowie durch örtliche NSDAP-Funktionäre. Die meisten von ihnen stammten aus Wien. Viele Juden starben infolge der schlechten sanitären Verhältnisse in den Teillagern, aufgrund von Erschöpfung von der anstrengenden Schanzarbeit oder sie wurden von den Wachmannschaften ermordet.

Das Ausflugsgasthaus Leberfinger verfügte über ein Stallgebäude, wo 200 Juden auf dem Dachboden untergebracht waren. Der ehemalige Häftling Ernö Honig beschrieb die Unterkunft folgendermaßen: „Wir schliefen dort (…) in einem Stall mit betoniertem Boden ohne jede Unterlage und ohne Heizung, sodass von uns, als wir Engerau verließen, nur mehr wenige am Leben waren. Die übrigen wurden teils bei der Arbeit erschlagen, teils starben sie an Erschöpfung oder den Folgen von schweren Erfrierungen. Es war uns verboten, uns zu waschen und wir waren deshalb voller Läuse und voll von Furunkeln und anderen eiternden Wunden.“ (Protokoll mit Ernö Honig, 15.8.1945; LG Wien Vg 1a Vr 4001/48, 2. Engerau-Prozess)

Als am 29. März 1945 sowjetische Truppen die Grenze bei Klostermarienberg überschritten, ordnete die zuständige Kreisleitung die Evakuierung des Lagers Engerau an. Die Gefangenen sollten zu Fuß nach Bad Deutsch-Altenburg marschieren, um von dort per Schiff nach Mauthausen transportiert zu werden. Erwin Falkner, der Kommandant der SA-Lagerwache, gab daraufhin den Befehl, die „nicht-marschfähigen“ Häftlinge liquidieren zu lassen, und stellte ein Sonderkommando zusammen. Ein Gendarm des Gendarmeriepostens Hainburg berichtete über die polizeiliche Einvernahme der Wirtin Leberfinger am darauffolgenden Tag: „Wir gingen in das Gasthaus Leberfinger in Engerau (…). Die Wirtin, Frau Leberfinger, (…) sagte uns, dass in ihrem Haus 13 erschossene Juden liegen. (…) Wir gingen nun in das ehemalige Stallgebäude, wo sich das Lager für die Juden befand. Dort lagen Habseligkeiten der Juden verstreut umher. Im Hintergrund sahen wir einige Leichen liegen. Die Leichen hatten Kopfschüsse und lagen in einer Blutlache. Sämtliche Leichen trugen den Judenstern. Im Hofraum lag auf einer Pritsche eine Leiche, die mehrere Schüsse, teils im Kopf, teils in der Brust aufwies. Diese Leiche war nur mit einem Hemd und einer langen Stoffhose bekleidet. Auch in der Nähe der Latrine, die im Hofe war (…), lagen (…) Leichen, ebenfalls durch Kopfschüsse getötet. Der Anblick war grauenhaft. (…) Frau Leberfinger erzählte uns, dass die politischen Leiter am 29.3. (…) um ca. 22 Uhr die Juden zum Abmarsch antreten ließen. Es meldeten sich diese 13 Juden, dass sie krank seien und nicht marschieren können. (Bald) kamen einige politische Leiter oder SA-Männer (…) in das Stallgebäude (…) und in wenigen Minuten hörten wir schon eine wilde Schießerei sowie verzweifelte Hilferufe (…).“ (1. Engerau-Prozess 14.‒17.8.1945; Hauptverhandlungsprotokoll, S. 57; LG Wien Vg 2b Vr 564/45)

Zwischen August 1945 und Juli 1954 wurden in insgesamt sechs Engerau-Prozessen zwanzig Personen wegen Verbrechen, begangen im Lager Engerau, von der Staatsanwaltschaft Wien angeklagt. Neun Angeklagte wurden vom Volksgericht Wien zum Tode verurteilt und hingerichtet. Es handelte sich damit um den größten Prozesskomplex der Nachkriegsjustizgeschichte im Bereich der Ahndung von NS-Verbrechen durch die österreichische Justiz.

An die 1945 von einer slowakischen Untersuchungskommission exhumierten 460 Toten des Lagers Engerau erinnern im slowakisch-österreichischen Grenzgebiet neben der neuen Gedenktafel am Restaurant Leberfinger ein Mahnmal auf dem Friedhof von Petržalka sowie Gedenksteine in den niederösterreichischen Orten Wolfsthal und Bad Deutsch-Altenburg.

 

Weiterführende Informationen

Kuretsidis-Haider, Claudia (2006), „Das Volk sitzt zu Gericht“. Österreichische Justiz und NS-Verbrechen am Beispiel der Engerau-Prozesse 1945–1954 (= Österreichische Justizgeschichte, Band 2). Wien, Innsbruck, Bozen: Studienverlag.

Brandner, Judith (2015/16), Die vergessenen Toten von Engerau. In: Das Jüdische Echo Nr. 64, 2015/16.

 

Links

Historischer Hintergrund von Claudia Kuretsidis-Haider

www.zeit-geschichte.com/wpckh/category/engerau/

 

DVD

„Das Volk sitzt zu Gericht“. Nachstellung des 1. Engerau-Prozesses im Großen Schwurgerichtssaal des Landesgerichts für Strafsachen Wien: www.doew.at/neues/dvd-das-volk-sitzt-zu-gericht

 

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