Seismograph und Freiheitskämpfer von Erhard Stackl

 

Wer, wie Rudolf Gelbard, 1938 auf Wiens Straßen von Hitlerjungen drangsaliert wurde, kann nicht passiv zusehen, wenn Rechtsradikale wieder in der Öffentlichkeit auftreten.

Wenn sich an einem kalten Winterabend eine Menschengruppe auf dem Wiener Heldenplatz versammelte, um gegen den Akademikerball zu demonstrieren, den Treffpunkt europäischer Rechtsausleger in der Wiener Hofburg, stand er oft in ihrer Mitte: ein Mann in den Achtzigern, im Wintermantel und mit Schirmkappe, der den meist viel jüngeren Zuhörern mit fester Stimme einschärfte, ja kein Wiedererstarken des Rechtsradikalismus zu dulden.

Und wenn ein knappes Dutzend Überlebender nationalsozialistischer Konzentrationslager gegen die FPÖ-nahe Zeitschrift „Aula“ eine Klage einbringt, weil dort aus Mauthausen entkommene KZ-Häftlinge bösartig als „Massenmörder“ und „Landplage“ bezeichnet worden sind, dann steht sein Name ganz oben: Rudolf Gelbard.

In Zeiten, in denen in etlichen Staaten Europas auf Hass und Ausgrenzung bauende Bewegungen florieren, ist Gelbard – wie er selbst sagt – einer von ganz wenigen Wiener Juden, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg, vor der Shoah, erlebt haben, wie damals die Verfolgung begann. Bei Vorträgen in Schulen und in der IKG, vor Filmkameras und auf der Bühne des Burgtheaters („Die letzten Zeugen“) erzählt Gelbard, wie er als Achtjähriger mit dem Judenstern diese Zeit erlebte. Zu Wohnungsverlust und Hunger, zum Entzug aller Rechte kam für den Buben noch die ständige Gefahr einer Konfrontation mit Hitlerjungen, deren Prügel er durch urwienerisches Auftreten manchmal entging.

Das half später auch im KZ Theresienstadt, in das er mit seinen Eltern 1942 verschleppt wurde. Etliche Wächter waren Wiener mit ordinärem Spruch, die Gefangene, die sie verstanden, etwas weniger schlecht behandelten. Insgesamt 15.000 Kinder waren in diesem Lager gewesen. Rudi gehörte zu jenen, die am Bahnhof Rücktransporte aus dem Osten empfangen mussten. Sie öffneten Waggons, in denen tote und fast verhungerte Gefangene übereinanderlagen. Der größte Teil der Gefangenen im angeblichen „Vorzeige-KZ“, auch die Kinder, wurden in die Vernichtungslager im Osten geschickt. Nur wenige überlebten.

1945 kam der fünfzehnjährige Rudi mit seinen Eltern nach Wien zurück. Sein Vater war als Folge der KZ-Haft aber schwer krank. Er starb 1952 im sechsundvierzigsten Lebensjahr.

In Rückblicken auf diese Zeit betont Rudolf Gelbard stets, dass das damals ihm „geschenkte Leben eine Verpflichtung“ war. Und in den zahlreichen ehrenden Reden, die in den vergangenen Jahren u. a. vom ehemaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer auf ihn gehalten wurden, wird stets betont, dass er diese Verpflichtung als aktiven Kampf gegen den alten und den neuen Faschismus auffasste. Jemand, der 1938 auf Wiens Straßen von Hitlerjungen drangsaliert worden ist, kann nicht passiv zusehen, wenn Rechtsradikale wieder in der Öffentlichkeit auftreten.

 

KZ-Überlebender Gelbard: „Das gerettete Leben als Verpflichtung“

Foto: Haeferl / CC BY-SA 3.0 AT/ Wikimedia

 

 

 

Wer sich heute wundert, wie sich rechtsradikale Ideologien so lange im Verborgenen halten konnten, übersieht, dass sie die ganze Zeit über da waren und von Menschen, die als KZ-Überlebende ein besonderes Sensorium haben, durchaus bemerkt wurden. „Schon 1946 ist Rudi Gelbard dabei, als die Wiener Universität nach Tumulten im Zusammenhang mit antisemitischen Äußerungen in einer Vorlesung über ältere Geschichte einen Tag belagert wird“, schrieb Caspar Einem in einem Porträt zu dessen fünfundsiebzigstem Geburtstag.

1948 stellt sich Gelbard ehemaligen „Ariseuren“ in den Weg, die im Hotel Wimberger zur Absicherung ihrer Beute einen „Verband der Rückstellungsbetroffenen“ gründen wollten.

1955 macht er mit, als die Versammlung eines Abgeordneten des FPÖ-Vorläufers VdU gesprengt wird, die den Titel trägt: „Hungerrenten und die jüdischen Forderungen an Österreich“. Wie es inwer sich wundert solchen Fällen zuging, hat Gelbard einmal selbst geschildert: Es wurden Türen blockiert und die Vortragenden mit lauten Zwischenrufen gestört, was manchmal auch zu Schlägereien führte.

Sein Freund Ferdinand Lacina (der spätere Finanzminister) glaubt, dass er ihm zum ersten Mal 1959 begegnet ist, als in Wien „bei der sogenannten Schiller-Feier, der ersten Großdemonstration alter und neuer Nazis nach 1945“ schlagende Studenten und andere weit rechte Gruppen „sich anschickten, vom Rathaus zum Heldenplatz zu marschieren“. Gelbard stand wiederum in der ersten Reihe derer, die dafür sorgten, dass sie nicht ungehindert aufmarschieren konnten.

„Wer sich wundert, wie sich rechtsradikale Ideologien so lange im Verborgenen halten konnten, übersieht, dass sie die ganze Zeit da waren und von Menschen wie Gelbard durchaus bemerkt wurden.“

Bei der folgenschwersten Antisemitismus-Affäre nach 1945 spielte Lacina selbst eine wesentliche, wenn auch erst später bekannt gewordene Rolle: Als neunzehnjähriger Welthandelsstudent schrieb Lacina in Vorlesungen von Professor Taras Borodajkewycz dessen judenfeindliche Tiraden mit. Heinz Fischer machte die Mitschriften in der „Arbeiter-Zeitung“ publik (zum Schutz des Studenten ohne dessen Namen). Fischer erhielt eine Geldstrafe wegen Ehrenbeleidigung. Lacinas Material landete bei Oscar Bronner (später Gründer von „Trend“, „Profil“ und „Standard“), der es seinem Vater, dem Kabarettisten Gerhard Bronner, übergab.

Eine mit antisemitischen Borodajkewycz-Zitaten gespickte TV-Kabarettnummer ließ die Wogen hochgehen. Borodajkewycz verteidigte sich öffentlich. Seine Fans trugen ihren Protest auf die Straße, wo sie „Heil Boro“ und „Hoch Auschwitz“ schrien. Bei Zusammenstößen mit Antifaschisten schlug am 31. März 1965 ein Burschenschafter den Kommunisten Ernst Kirchweger nieder, der das nicht überlebte. Rudolf Gelbard stand nur wenige Meter daneben.

„Wir, die Überlebenden, sind nicht nur den Toten verpflichtet, sondern auch den kommenden Generationen. Wir müssen unsere Erfahrungen weitergeben.“

Gelbard gehört zu den „sozialdemokratischen Freiheitskämpfern“, seine politische Heimat war und ist die SPÖ. Das hindert ihn aber nicht, kritisch das Wort zu erheben, wenn dort in Bezug auf den Nahostkonflikt einseitig propalästinensische Töne erklingen. In all den Jahren beobachtete Gelbard zudem Prozesse gegen alte und neue Nazis und eignete sich ein detailliertes historisches Wissen an. Nachdem er sich zunächst als Handelsvertreter durchgeschlagen hatte, fand er seinen Traumjob: Die Tageszeitung „Kurier“ stellte ihn als Dokumentaristen ein. Gelbard bereitete zeitgeschichtliche Serien vor und recherchierte für Bücher von Hans Rauscher („Israel, Europa und der neue Antisemitismus“) und Hans-Henning Scharsach („Haiders Kampf“).

Es ist wenig überraschend, dass von ihm enttarnte Rechtsradikale bösartig reagierten. In der „Alpen-Donau.info“ wurde Gelbard als „Berufsüberlebender“ und „Hetzjude“ beschimpft.

Nicht selten wird Gelbard gefragt, warum er sich das alles antue, wie er das bloß aushalte. Als er am 8. Mai 2016 beim Staatsakt zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus im Bundeskanzleramt die Festrede hielt, gab er darauf implizit eine Antwort. Aus dem Buch „Recht, nicht Rache“, der Autobiografie von Simon Wiesenthal, mit dem er zu dessen Lebzeiten einen freundschaftlichen Briefwechsel geführt hatte, brachte Gelbard dieses Zitat: „Wir, die Überlebenden, sind nicht nur den Toten verpflichtet, sondern auch den kommenden Generationen. Wir müssen unsere Erfahrungen weitergeben, damit sie daraus lernen können. Information ist Abwehr! Die Überlebenden müssen wie Seismographen sein, sie müssen die Gefahren früher als andere wittern, in ihren Konturen erkennen und aufzeigen. Wir dürfen nicht für harmlos halten, was in einer Katastrophe münden kann.“

 

Wider die inhaltslose Ergriffenheit

Den „Anschluss“ beleuchtende Auszüge aus der am 8. Mai 2016 im Wiener Bundeskanzleramt gehaltenen Rede von Rudolf Gelbard zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus.

Der verstorbene Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, Martin Broszat, sagte in einer Rede: „Ohne die Kenntnisnahme der entsetzlichen Einzelheiten bliebe auch der Gedanke an die Millionen unschuldiger Opfer inhaltslose Ergriffenheit.“ (…)

Wie haben Zeitzeugen den 12. März 1938 in Wien erlebt? Aus Carl Zuckmayers Erinnerungen „Als wär’s ein Stück von mir“: „An diesem Abend brach die Hölle los. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen. Die einen in Angst, die anderen in Lüge, die anderen in wildem, hasserfülltem Triumph. Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden, böswilligen Rachsucht. Und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt. Die Rollkommandos zogen nun bereits in der Stadt umher und suchten die Wohnungen unliebsamer oder von bösartigen Nachbarn denunzierter Personen heim. Leute wurden entführt, manche fand man dann grauenvoll misshandelt und verstümmelt in Krankenhäusern wieder, andere nie.“

Ein weiterer Zeitzeuge ist Korrespondent einer Lon­doner Zeitung in Wien, Gedye (George Eric Rowe Gedye, 1890–1970, arbeitete u.a. für „The Times“ und den „Daily Telegraph“ – Anm.). In seinem Buch „Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte“ schreibt er: ,,,Rette sich wer kann‘ war die allgemeine Losung nach der Abschlussrede von Bundeskanzler Schuschnigg, aber Rettung war praktisch aussichtslos. Alle Straßen, die zur Grenze führten, waren von den Taxis und Privatautos der Flüchtlinge verstopft. Auf dem Flugplatz ebenso wie auf den Bahnhöfen drängte sich ein buntes Gemisch von Fürsten, Bauern und armen Leuten, von weltbekannten Bankiers und unbekannten Proletariern, Juden, Offizieren des Bundesheeres, von Polizeibeamten und jenen Kommunisten und Sozialisten, die sie verhaftet und bestraft hatten; katholische Priester, Staatsbeamte und Journalisten – sie alle suchten verzweifelt, auf dem abfahrenden Zug einen Platz zu erobern. Die Klügeren, die Strapazen auf sich nehmen konnten, begaben sich in kleinen Gruppen zu Fuß in die Wälder und schlugen sich nach den Grenzübergängen in den Bergen durch, in der Hoffnung, auf Schleichwegen in Sicherheit zu kommen.“ Die Häftlinge vom ersten Dachauer Transport wurden in Überfallsautos gepfercht. Und es wird so geschildert: „Da biegen die Wagen in die Mariahilfer Straße ein und nehmen Kurs zum Westbahnhof. Da plötzlich schreit einer mit Wahnsinnsstimme: ,Nach Dachau – ins Konzentrationslager!‘“

Im ersten Dachauer Transport am 1. April 1938, dem sogenannten Prominententransport, waren 151 Häftlinge, darunter die späteren Bundeskanzler Figl und Gorbach, Vizekanzler Bock als Repräsentanten der Vaterländischen Front, der spätere Gewerkschaftspräsident Olah und der Chef des Republikanischen Schutzbundes als Repräsentanten der Sozialdemokratie sowie der spätere Stadtrat für Kultur, der Kommunist Matejka. Das KZ Dachau verzeichnete 1938 den Zuzug von 18.695 Häftlingen, von denen mindestens 8000 aus Österreich stammten. Außerdem waren noch im ersten Dachauer Transport von den führenden Politikern der Vaterländischen Front der Bürgermeister von Wien Schmitz, der Landeshauptmann von Niederösterreich Reiter, von der Israelitischen Kultusgemeinde Präsident Friedmann, von den sozialdemokratischen Politikern Danneberg und der kommunistische Funktionär Soswinski.

Rudolf Kalmar, nach dem Krieg Chefredakteur der Zeitung „Neues Österreich“, war ebenfalls Häftling im ersten Dachauer Transport und berichtete 1946 in „Zeit ohne Gnade“: „Als wir auf dem Westbahnhof von der Wiener Polizei der Dachauer SS übergeben wurden, hörten wir auf, Menschen zu sein. Wir hockten Mann an Mann gepresst im Abteil und exerzierten nach dem Kommando der Treiber. Bald mussten wir unter die Bänke kriechen, bald ins Gepäcknetz hinaufturnen oder minutenlang in das elektrische Licht starren, ohne zu zwinkern, wenn wir nicht eine Tracht Prügel riskieren wollten. Wir mussten hunderte Kniebeugen machen, unser Gegenüber abohrfeigen und einander ins Gesicht spucken. Zehn Stunden lang ohne Unterlass.“ (…)

Bewundernswert, und ich habe sie kennen-lernen dürfen, ist das kämpferische Leben von Rosa Jochmann. Sie war im Zeitraum vom Dezember 1945 bis zum 16. Mai 1967 Abgeordnete zum Nationalrat. In einem Interview sagte sie: „Ich war sieben Jahre im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück eingesperrt. Wir, die wir aus dem Konzentrationslager zurückgekommen sind, wir sind keine freien Menschen. Die Gnade des Vergessenkönnens ist keinem beschieden, der im Konzentrationslager war – das kann man nicht vergessen. Es ist nicht so, dass es, je weiter es wegrückt, einfacher und leichter würde – es bleibt. Man lebt mit unzähligen unverdrängbaren Bildern.“ Ich kann diese Antwort von Rosa Jochmann nur bestätigen, sie gilt genauso für mich als ehemaligen KZ-Häftling.

Foto Erhard Stackl  von Christian Fischer

Logo FacebookLogo Twitter