Frankreich nach dem Gazakrieg und vor den Terroranschlägen
Pariser Ratlosigkeit
Wie brachialer Judenhass muslimischer Jugendlicher das einstige Koordinatensystem der französischen Zivilgesellschaft erschütterte.
„Sie haben das falsch verstanden“, sagte mir ein junger Mann auf dem Gehsteig vor dem Théâtre de la Main d’Or und wirkte dabei aufrichtig erstaunt. Das war im vergangenen Juli. Soeben hatten wir, rund 150 Zuschauer, dicht gedrängt der neuen Darbietung des Kabarettisten Dieudonné in seiner angestammten Pariser Kleinbühne beigewohnt. Die Aufführung lief bereits vier Wochen, zweimal täglich. Unter dem zustimmenden Gelächter des Publikums, überwiegend junge Männer und auffällig wenig Frauen, hatte Dieudonné unter anderem erklärt: „Der Genozid an den Indianern, das war das Schlimmste. Daneben war die Sache in Polen während des Krieges wie ein Urlaub im Club Méditerranée.“
Nach der Vorstellung, als ich einen der davonstrebenden Zuschauer ansprach, fiel mir obiger Satz ein und ich fragte ihn, ob er sich an dieser Formulierung nicht gestoßen habe. Seine Antwort: „Dieser Vergleich war ein Witz, um die Vertuschung des Völkermords an den Indianern zu kritisieren.“ Ich war sprachlos.
So geht es einem oft, wenn man Personen befragt, die zu Dieudonnés Fans gehören oder ihn in Schutz nehmen: „Warum soll man sich nicht auch über Juden lustig machen können?“, hatte mich eine politisch nicht sonderlich interessierte, aber allen gegenüber wohlgesinnte Nachbarin zu Jahresbeginn gefragt. Damals hatte das Thema Dieudonné tagelang die Öffentlichkeit beherrscht. Der damalige Innenminister (und jetzige Regierungschef) Manuel Valls hatte eine bereits ausverkaufte Tournee von Dieudonné in den Stadthallen mehrerer Provinzstädte wegen „Verhetzung“ verbieten lassen.
Die Anwälte des antijüdischen Kabarettisten hatten jeweils – vergeblich – versucht, die Verbote durch Berufung zu Fall zu bringen. Frankreichs TV-Nachrichtensender berichteten stündlich über diese Kraftprobe. In Erwartung der Entscheidungen der Höchstgerichte sah man tausende Fans vor den jeweiligen Hallen, die „Freiheit für einen Künstler“ forderten. Einige schwenkten Ananasfrüchte – in Anspielung auf ein von Dieudonné verfasstes Spottlied: „Shoah-Ananas“. In dem damaligen Spektakel hatte Dieudonné über einen jüdischen Journalisten gesagt: „Sollte sich der Wind drehen, bin ich nicht sicher, ob er genug Zeit haben wird, seine Koffer zu packen. Wenn ich Patrick Cohen reden höre, denke ich, die Gaskammern – schade.“
Dieudonné Mbala Mbala, wie der Sohn einer Bretonin und eines Kameruners mit vollständigem Namen heißt, hatte ursprünglich mit antirassistischen Shows reüssiert und sich als Gegner des Front National politisch engagiert. Ab 2004 war er aber zusehends von Israel-kritischen Einlagen auf schlicht antijüdische Hetze umgeschwenkt. Dabei blieb ihm ein Teil seines Ursprungspublikums aus der jungen Mittelschichte und aus franko-afrikanischen und franko-karibischen Kreisen treu, während neue, vor allem franko-arabische Fans dazustießen. Seine Sketche flachten zusehends ab, auch wenn sie sich zur Abwechslung einmal nicht gegen Juden oder Homosexuelle (sein zweites Feindbild, darunter zuletzt auch Conchita Wurst) richteten.
Dieudonné über den Holocaust: „Zwischen Juden und Nazis bin ich neutral. Wer hat wen provoziert? Ich hab’ da meine Idee.“ (Foto: Kaïs Miled / cc by-nc-sa 2.0 / https://flic.kr/p/5uzC5M)
Sein Geschick besteht freilich darin, grausame Schmähungen als Späße zu tarnen und in seinen Darbietungen zwischenzeitlich durch andere Themen zu verharmlosen.
Dabei besteht an seinem gewaltschwangeren, judenfeindlichen Weltbild kein Zweifel:
In der eingangs erwähnten neuen Show im Juli machte Dieudonné „die Juden“ für die Sklaverei in der Karibik verantwortlich (weil sich unter den Sklavenhaltern auch Juden befanden). Dabei hielt er „den Juden“ vor, sie hätten sich „nach diesem von ihnen verübten Genozid besser als die Nazis durchgeschlagen“. Auf seinem Webportal, das hunderttausende Besucher zählt, verlautbarte er zu Neujahr: „Zwischen Juden und Nazis bin ich neutral. Wer hat wen provoziert? Ich habe da so meine Ideen.“
Dieudonné: „Zionismus macht die Franzosen zu Sklaven“
Für Dieudonné ist der Zionismus „eine Sauerei“, die die Franzosen „zu Sklaven“ gemacht habe. „Unsere Herren waren noch nie so mächtig, sie beherrschen uns, sie vergewaltigen und demütigen uns.“ In Frankreich würde aber schon bald gegen diese „Herrschaft der Zionisten ein Aufstand stattfinden“.
Seinen Lagerwechsel von links nach rechts vollzog Dieudonné zuerst durch einen Schulterschluss mit Jean-Marie Le Pen. Sein engster politischer Gefährte ist aber Alain Soral. Vormals ZK-Mitglied des Front National, verließ Soral die Partei, um sich ungehemmter NS-Apologie zu widmen. Soral will Rechtsradikale und Muslime unter dem Banner des „Kampfes gegen die jüdische Weltherrschaft“ vereinen.
Diese auf das Internet konzentrierte „Dieudosphere“ ist zwar politisch eine Randerscheinung, addierte sich aber in den letzten Jahren mit drei weiteren, zunehmend gefährlicher werdenden Erscheinungsformen der Judenfeindschaft:
– Gelegenheitsübergriffe. An erster Stelle firmieren die immer wiederkehrenden Gelegenheitsattacken in ärmeren Vierteln, denen Juden ausgesetzt sind, die mit Erkennungszeichen wie der Kippa oder dem Davidstern unterwegs sind. Mal werden sie beschimpft, mal bespuckt, mal geschlagen. Ein jüdischer Schulbus wird mit Steinen beworfen. Aus den oberen Etagen einer Sozialbausiedlung prasseln Gegenstände auf den darunterliegenden Hof eines jüdischen Kindergartens, die Kinder können nicht mehr im Freien spielen. Die Täter sind fast ausnahmslos Jugendliche aus muslimischen Familien oder Islamkonvertiten. Es gibt zwar etliche Beispiele aus Randvierteln, die von einer weiterbestehenden, problemlosen Koexistenz zwischen Juden und Muslimen zeugen. Aber seit dem Jahr 2000, parallel zur zweiten palästinensischen Intifada, ist die Zahl der Attacken hochgeschnellt und kaum mehr gesunken. Aus den Statistiken des französischen Innenministeriums geht hervor, dass von sämtlichen als „rassistisch“ eingestuften Taten die Hälfte gegen Juden gerichtet ist. Dabei stellen die Juden weniger als ein Prozent der Bevölkerung Frankreichs. Auch wenn, aufgrund der Einwanderung aus Nordafrika, Frankreich das Land mit den meisten Juden Europas (rund eine halbe Million, Zahl abnehmend) und Muslimen (sechs bis acht Millionen, Zahl ansteigend) ist.
– Morde. Die Juden müssen mit einer zusätzlichen Steigerungsstufe auf der Gefahrenskala umgehen, seit klar geworden ist, dass es zwischen ihren gelegentlichen Peinigern aus der näheren oder weiteren Umgebung und dschihadistischen Attentätern möglicherweise Querverbindungen gibt. Das gilt vor allem seit dem Überfall von Mohammed Merah auf eine jüdische Schule in Toulouse im März 2012. Der Franko-Algerier Merah, der in Frankreich aufgewachsen war und später zur al-Qaida stieß, erschoss in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer. (In den Tagen zuvor hatte Merah zwei Soldaten getötet. Nach den Morden in der jüdischen Schule wurde er von der Polizei in einer Wohnung gestellt und kam nach einer Belagerung bei einem Feuergefecht ums Leben.) Als Reaktion auf diese Morde gab es zwar einen nationalen Schulterschluss in Frankreich: Der damalige Wahlkampf legte eine Pause ein, während der sich sämtliche Spitzenpolitiker zu einer Trauerkundgebung versammelten. An allen Schulen Frankreichs wurden Gedenk- und Gesprächsrunden anberaumt. Aber in der Folge kam es zu einem deutlichen Anstieg der Drohungen und Handgreiflichkeiten gegen Juden, so, als hätte Merah eine Art Beispielwirkung ausgeübt. Im vergangenen Mai folgte der Feuerüberfall des Franko-Algeriers Mehdi Nemmouche auf das jüdische Museum in Brüssel, bei dem vier Personen getötet wurden. Aber schon 2003 und 2006 war jeweils ein Jude vorsätzlich von Jugendlichen getötet worden, die sich an der Schnittstelle zwischen Kriminalität und Islamismus bewegten.
– Kollektivangriffe. Im vergangenen Juli, im Rahmen der Demonstrationen gegen die israelische Intervention in Gaza, verdichtete sich dieses gewaltschwangere Klima erstmals zu einem Kollektivangriff auf Synagogen und jüdische Läden. Am Sonntag, den 20. Juli wurde eine Palästina-Kundgebung ausgerechnet in Sarcelles angesetzt. Das ist unter den hunderten Gemeinden des nördlichen Pariser Vorortegürtels jene Trabantenstadt, in der die meisten Juden leben. Seit den 1960er-Jahren hatten sich dort Juden aus Tunesien angesiedelt und eine bis heute sichtbare Gemeindestruktur aus Synagogen, Kindergärten, Sozialzentren, koscheren Imbissstuben und Lebensmittelläden errichtet. Die verheerenden Folgen der Palästina-Demo in Sarcelles waren daher quasi vorprogrammiert: Kaum war die – von den Behörden verbotene, aber schließlich tolerierte – eigentliche Kundgebung beendet, stürmten hunderte Teilnehmer in Richtung der in der Nähe gelegenen größten Synagoge von Sarcelles. Von der Polizei abgedrängt, verwüsteten sie Ämter und Läden, darunter ein Bistro, in dem christliche Einwanderer aus dem Irak und der Türkei („Chaldo-Assyrer“) verkehren, und einen koscheren Supermarkt. Dieser war bereits 2012 Ziel eines missglückten Sprengstoffanschlags einer Dschihadistenzelle gewesen. Geschäfte, die sichtlich Muslimen zugeordnet werden konnten, wie Halal-Metzgereien oder türkische Reisebüros, blieben bei den Unruhen im Juli von jeder Attacke verschont. Einige Angreifer schwenkten auch türkische Fahnen – wohl auch das Resultat der antijüdischen Hetze des türkischen Premiers Recep Erdoğan. Bis dahin hatten die Juden von Sarcelles nie Zwischenfälle mit türkischen Muslimen aus der Gegend zu verzeichnen. „Schlimmer als die Zerstörungen ist die psychologische Erschütterung“, konstatierte tags darauf der sozialistische Bürgermeister von Sarcelles: „Es ist der Schock über den Hass der Jugendlichen aus einigen Vierteln.“ Tatsächlich waren Jugendliche und Halbwüchsige aus den umliegenden Bauten auf die Straße gerannt und hatten sich dem unter ihren Fenstern vorbeilaufenden Pulk der Angreifer (die aus dem gesamten Vorortegürtel nach Sarcelles gekommen waren) angeschlossen.
Tunesisches Trauma
Nachträglich erschien mir die Signalwirkung der Ereignisse von Sarcelles besonders klar, als ich mich zufällig zu einer Untersuchung bei meinem – jüdischen – HNO-Arzt einfand. Unaufgefordert erzählte der sonst eher zurückhaltende Mann: „Mein Cousin in Sarcelles sandte uns mehrere SMS mit Hilferufen, weil er fürchtete, die Menge könnte mit ihren Eisenstangen und Knüppeln in die Wohnungen der Juden hochstürmen. Mich hat das an unseren Auszug aus Tunesien erinnert, während des Sechstagekriegs 1967. Mein Vater hielt sich in einer Synagoge versteckt, die von der Menge angegriffen wurde. Der Synagogenwächter, ein Muslim, musste im Namen Allahs schwören, keine Juden zu verbergen. Aber immerhin beschützt uns hier die Polizei, das ist der Unterschied zu Tunesien. Auswandern werde ich nicht.“
Sarcelles bei Paris nach einer Demo im Juli 2014: Sturm in Richtung Synagoge; brennende Barrikaden, Ämter und Läden verwüstet.
(Foto: Pierre Andrieu / AFP / www.picturedesk.com)
Die Vorstellung, im Notfall nur mehr durch einen – selber schwer bedrängten – Polizeikordon vor einer feindlichen Meute geschützt zu werden, hat allerdings einige Juden sehr wohl in eine neue Emigration getrieben. Ein nach Israel ausgewanderter Jude, der dort vom Gazakrieg überrascht wurde, erklärte der Zeitung „Le Parisien“: „Ich bereue nichts. In Israel können wir kollektiv standhalten, in Paris war ich den Anfeindungen als Individuum ausgeliefert.“
Die Anzahl der Auswanderungen nach Israel blieb aber bisher bescheiden. In den letzten Jahren handelte es sich jeweils um 1500 bis 3000 Personen. Für 2014 prognostizieren die israelischen Behörden einen Zustrom von über 5000 Juden bis Jahresende. Erfahrungsgemäß kehrt ein Drittel wieder zurück. Freilich dürfte eine noch größere Zahl französischer Juden in andere Länder migrieren, vor allem in die USA und Kanada. Für einige dürfte die Bedrohungslage als praktizierende Juden ausschlaggebend sein, für andere die Krise der französischen Wirtschaft und für manche ein Mix aus diesen Motiven.
Brisanter ist der Auszug fast aller jüdischen Kinder und einiger jüdischer Lehrer aus den öffentlichen Schulen im nördlichen Pariser Vorstadtgürtel. Man muss freilich einschränkend anmerken, dass Muslime ihrerseits aus Problemschulen in meist katholische Privatanstalten ausweichen.
Gedenken an die Opfer vor der Ozar-Hatorah-Schule in Toulouse.
(Foto: Rex Features / www.picturedesk.com)
François Hollande verärgert muslimische Meinungsträger
Polizei und Justiz reagieren in den allermeisten Fällen verhältnismäßig schnell und scharf auf antijüdische Übergriffe. Die relevanten Politiker des Landes, ob Regierung oder bürgerliche Opposition, lassen nicht den geringsten Zweifel an ihrem Engagement zur Verteidigung der jüdischen Bürger.
Zu Beginn der israelischen Intervention in Gaza im vergangenen Juli signalisierte Präsident François Hollande Verständnis für das Vorgehen Israels – wofür er als „Komplize Israels“ von der pro-palästinensischen Bewegung geschmäht wurde. Hollande und Regierungschef Valls ließen auch pro-palästinensische Demonstrationen in den ärmeren Bezirken des Pariser Nordostens, wo die meisten Synagogen stehen, verbieten. Damit nahm Hollande eine spürbare Verärgerung etlicher muslimischer Meinungsträger in Kauf, obwohl die muslimischen Wähler entscheidend zu seinem Sieg bei der Präsidentenwahl 2012 beigetragen hatten. All dies muss man im Auge behalten, wenn man leichthin formulierte Schlagzeilen über den „wachsenden Antisemitismus in Frankreich“ liest.
Will man so etwas wie eine Mehrheitsstimmung in der Bevölkerung ausmachen, kann man am ehesten von einem abwechselnden Unbehagen gegenüber Israel und seinen arabischen Gegnern sprechen. Von einer relevanten Zunahme antijüdischer Einstellungen in der Mehrheitsbevölkerung kann aber keine Rede sein.
Eine bedeutsame Stimmungsverschiebung hat allerdings im gesellschaftskritischen Jugendmilieu und bei den gebildeten Mittelschichten stattgefunden. Dieses rührige Milieu neigte bis Ende der 1990er-Jahre zu Sympathie mit der jüdischen Minderheit. Aktivisten mit jüdischen Wurzeln waren und sind in diesem Milieu zahlenmäßig stark vertreten – ein Teil von ihnen trägt auch pro-palästinensische Initiativen oder unterstützte zumindest israelisch-palästinensische Verständigungsbemühungen. Ihr Anteil ist aber unter den nachrückenden Generationen der linken Szene gesunken. Nunmehr überwiegt in diesem Milieu eine schärfere Kritik an Israel und Unverständnis gegenüber einer jüdischen Gemeinschaft, die sich nach außen hin vor allem in der ultra-rigoristischen Lubawitsch-Bewegung verkörpert. Das hat eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber jüdischen Opfern von Übergriffen mitbegünstigt.
Im Rückblick lässt sich das an zwei historischen Markierungen festmachen. Im Zuge des Jugendaufstands des Mai 1968 lautete einer der Slogans: „Wir alle sind deutsche Juden.“ Das war eine Antwort auf ein rechts-radikales Blatt, das dem Aufstandstribun Daniel Cohn-Bendit zum Vorwurf gemacht hatte, sowohl Jude als auch Deutscher zu sein. Im Mai 1990 löste die Schändung des jüdischen Friedhofs in Carpentras in Südostfrankreich immense Demonstrationen aus, wobei Jean-Marie Le Pen (damals in einer Aufstiegsphase) als indirekter Verursacher gebrandmarkt wurde (die Täter, erst sechs Jahre später ausgeforscht, kamen aus einer Neonazi-Clique). Die antijüdischen Übergriffe der vergangenen Jahre haben hingegen nie eine auch nur ansatzweise vergleichbare Reaktion ausgelöst.
Distanz zwischen Juden und „sichtbaren Minderheiten“
Repräsentanten jüdischer Institutionen bemühen sich um Bündnisse mit Organisationen, die einen Vertretungsanspruch für ethnosoziale Gruppen erheben, die heute in Frankreich als „sichtbare Minderheiten“ bezeichnet werden: vornehmlich Muslime, Araber und „Schwarze“ (der Begriff „Les Noirs“ oder „Les Black“ wird in Frankreich als identitätsstiftende Bezeichnung von den betroffenen Gruppen selbst benützt). Diese Bündnisse sind aber auf wenige Berufsaktivisten und abgehoben wirkende Würdenträger beschränkt.
In einer unterschwellig gängigen Optik, in der sich Hautfarbe und soziale Zugehörigkeit vermengen, stehen sich Juden und muslimische Jugend aus arabischen und afrikanischen Familien auf zwei Ebenen der französischen Gesellschaft gegenüber. Dabei spielt die Polarisierung um den Nahostkonflikt eine Schlüsselrolle. Dazu kommt, dass die Juden, inklusive ihrer aus nordafrikanischen Familien stammenden Mehrheit, zu den „Weißen“ gezählt werden, weil sie keine berufliche Diskriminierung erfahren, vielfach zum Mittelschichtsmilieu zählen und unter den wirtschaftlichen und politischen Eliten prominent vertreten sind. Auch wenn jetzt wieder eine wachsende Zahl an Juden in Armut verfällt.
Folgt man den erwähnten geläufigen Vorstellungen, steht dieser „weißen“ Mehrheitsbevölkerung ein Kollektiv gegenüber, das aus Franko-Arabern, Franko-Afrikanern und Franko-Kariben („Antillais“) besteht (Letztere sind von Haus aus französische Staatsbürger – sie stammen aus den Französischen Antillen und sind Nachfahren der dorthin verschleppten afrikanischen Sklaven). Hinter dieser Zuordnung zu einem Kollektiv verbergen sich zahllose unterschiedliche Abstammungs- und Gemeinschaftsdefinitionen, verschiedenste rivalisierende religiöse und politische Strömungen und eine grenzenlose Vielfalt an sozialen Schicksalen und persönlichen Meinungen. Es ist aber nichtdestotrotz wahr, dass die jungen Menschen aus diesen Bevölkerungsgruppen die vergleichsweise geringsten Job- und Aufstiegschancen haben, wobei die anhaltende Stagnation der französischen Wirtschaft in besonderem Maß auf diesen Personengruppen lastet. So beträgt etwa die Jugendarbeitslosigkeit im Landesschnitt 23 Prozent (Stand vom ersten Trimester 2014), sie erreicht aber die doppelte Höhe in den Sozialbausiedlungen an den Stadträndern, wo die Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund überwiegen.
Ein Teil der jungen Menschen aus diesem „nicht-weißen Kollektiv“ hat aufgrund gemeinsamer Erfahrungen von Ausgrenzung und Stigmatisierung auch zu einer Art Gemeinschaftsgefühl gefunden, das sich zunehmend mit der Bezeichnung „Muslime“ überlappt. Der von diesem Jugendmilieu entwickelte Habitus, wie etwa Grußformeln und andere verbale Codes, die einem neopietistischen Islam entlehnt sind, üben eine gewisse Faszination auf einen Teil der „weißen“ Jugend aus. Mitübernommen wird dann auch das antijüdische Ressentiment, das bei einem Teil der muslimischen Jugend virulent ist. Die Resonanz von Dieudonné unter „weißen“ Jugendlichen ist Ausdruck dieser Tendenz.
Debatte um „Anti-Weißen-Rassismus“
Aber meistens ist (immerzu demselben Schema folgend) auf der „weißen Seite“ des Jugend- und Bevölkerungsspektrums eine tendenziell konträre kollektive Befindlichkeit spürbar. Diese beruht auf teils realer, teils vermeintlicher Rivalität mit den Nachfahren der Migrantenfamilien und den Neumigranten um Jobs oder Sozialbauwohnungen. Und auf der Angst vor Gewalt und Kriminalität, die ein Teil der vorstädtischen Jugend ausübt.
Diese Jugendkriminalität gedeiht auch, weil die französische Industrie in bisher unbekanntem Ausmaß wegbricht. Dadurch werden, wie bereits erwähnt, vorrangig Familien arabischer und afrikanischer Herkunft ihrer vormaligen Berufs- und Aufstiegschancen beraubt – auch wenn der französische Wohlfahrtsstaat, trotz Sparmaßnahmen, noch immer mittels vergleichsweise hoher Transferleistungen ein halbwegs funktionstüchtiges soziales Netz gewährleistet.
Aber immer breitere Teile der übrigen Bevölkerung, die ihrerseits zunehmend sozial abrutschen, überschätzten diese Transferleistungen und beneiden deren Bezieher. Kaum mehr erträglich scheint dann der zuvor beschriebene kriminelle Druck von Teilen der Jugend aus den Sozialbausiedlungen. Es ist diese Konstellation, die zum drastischen Anstieg der Jungwähler des Front National entscheidend beigetragen hat.
Wie wir bereits gesehen haben, müssen sich Juden vor denselben Kreisen der vorstädtischen Jugend fürchten. Das hat im öffentlichen Erscheinungsbild jüdisch eingestufter Persönlichkeiten auf zwei Ebenen seinen Niederschlag gefunden:
– Einige Aktivisten und Gruppen der moderat linken Anti-Rassismus-Szene haben den Begriff des „Anti-Weißen-Rassismus“ geprägt. In mehreren Fällen von Gewalttaten gegen „Weiße“, die als solche beschimpft und attackiert wurden, haben Opferanwälte (aus diesen Anti-Rassismus-Bewegungen) bei Prozessen auf Taterschwerung gepocht, wie sie die Gesetzgebung bei rassistischen Beweggründen vorsieht. Eine derartige Argumentation war zuvor rechten Bewegungen vorbehalten. Andere Anti-Rassismus-Bewegungen beharren darauf, dass der Rassismusvorwurf nur dann zutreffe, wenn er Ausdruck einer politisch konstruierten Ideologie und Vormachtstellung gegenüber Angehörigen von historisch benachteiligten und entsprechend klassifizierten Gruppen ist.
– Einige – wenige, aber markante – Persönlichkeiten mit jüdischen Wurzeln gelten als Bannerträger der Kritik des (ihrer Meinung nach) um sich greifenden „Multikulturalismus“. Nach deren Lesart stehen vor allem die jungen Muslime unter Verdacht, kaum Eingliederungsbereitschaft und staatsbürgerliche Loyalität gegenüber der demokratischen Republik aufzubringen. Dieser Haltung würden linke Lehrer Vorschub leisten, behaupten die Kritiker des „Multikulturalismus“. Der namhafteste Repräsentant dieser Kritik auf jüdischer Seite ist der Essayist Alain Finkielkraut. Er ist damit für viele Linke zum Buhmann geworden, obwohl er im Nahostkonflikt die innerjüdische J-Call-Bewegung unterstützt, die von Israel den Rückzug aus den 1967 besetzten palästinensischen Gebieten fordert. Unbestreitbar weit rechts angesiedelt ist der prominente Essayist und TV-Polemiker Eric Zemmour, der zuletzt von der französischen Medienaufsichtsbehörde in die Schranken gewiesen wurde, weil er erklärt hatte: „Die großen Invasionen, die auf den Fall von Rom folgten, werden jetzt durch Banden von Tschetschenen, Roma, Kosovaren, Maghrebinern, Afrikanern ersetzt, die Gewalt ausüben und plündern.“ Derartige Meinungsträger gab es schon seit jeher, auch unter Juden, sie fanden aber kaum breitenwirksame Tribünen und wurden auch nicht als Stimmungsbarometer ernst genommen.
Marine Le Pen „entteufelt“ ihre Partei
An dieser Stelle ist ein Exkurs zum Front National (FN) nötig. Der rechtspopulistische FN kam bei den EU-Wahlen im vergangenen Mai auf 25 Prozent und wurde damit erstmals zur stimmenstärksten Partei. Die FN-Vorsitzende Marine Le Pen erzielte diesen Erfolg, indem sie sich und die um sie gescharten eher jüngeren Parteikader vor allem als Verfechter nationaler Eigenständigkeit gegenüber der EU präsentierte. Die Agitation gegen Brüssel und den Euro („ein von Deutschland aufoktroyiertes Zwangskorsett“) stand im Vordergrund. Die üblichen Reden gegen den Vormarsch des Islam, neue Migranten aus Afrika und Roma aus Osteuropa lieferten die Begleitmusik.
Marine Le Pen war es zuvor gelungen, im öffentlichen Auftreten ihrer Partei das ihr anhängende antijüdische Image fast komplett zu tilgen. Der Lebensgefährte von Marine Le Pen und FN-Vizepräsident Louis Alliot, der auf einen jüdisch-algerischen Großvater verweist, erklärte in Hinblick auf die sogenannte „Dédiabolisation“ (wörtlich: „Entteufelung“, der Begriff steht für die neue Akzeptanz des FN unter Marine Le Pen): „Diese (Entteufelung) bezieht sich nur auf den Antisemitismus. Beim Flugzettelverteilen war der (Vorwurf des) Antisemitismus das einzige Hindernis, an dem wir scheiterten. Es war nur das. Wenn sie diesen Riegel entfernen, kommt alles in Fahrt.“ (Aus einem Gespräch mit der Historikerin Valérie Igounet, zitiert in ihrem 2014 in Frankreich erschienenen Buch „Le Front national de 1972 à nos jours“.)
Beim historischen Gründerkern des FN rund um Jean-Marie Le Pen fiel der Judenhass zweifellos ins Gewicht. Als Le Pen aber in den 1980er-Jahren mit ersten Wahlerfolgen aus seiner politischen Randexistenz hervortauchte, versuchte er an jüdischen Gemeinden anzudocken und mit pro-israelischen Stellungnahmen zu punkten. Er blitzte aber dabei jedes Mal ab.
In der Folge leistete sich Jean-Marie Le Pen gelegentlich wieder unterschwellige, dafür aber umso provokantere antijüdische Sprüche. Rund um den Aufstieg
Front-Nationalchefin Marine Le Pen: antijüdische Sprüche des Vaters als Reibungspunkt der Familiendynastie.
(Foto: Rémi Noyon / cc By 2.0 / https://flic.kr/p/bAQG1Y)
seiner Tochter zur Parteivorsitzenden 2011 wurde dieses Thema zu einem innerfamiliären Reibungspunkt der Le-Pen-Dynastie.
Der Vater hatte zwar seine Tochter als Nachfolgerin favorisiert. Ihren Triumphzug als Parteierneuerin erlebte er aber als seine Kaltstellung. Dagegen opponiert er mit einschlägigen Sprüchen. Nach dem Erfolg von Marine Le Pen bei den EU-Wahlen erschien auf dem FN-Webportal ein Interview, in dem er gegen Promis wetterte, die es gewagt hatten, sich seiner Bewegung öffentlich zu widersetzen. Als er auf den Schlagerstar Patrick Bruel, der aus einer jüdischen Familie stammt, zu sprechen kam, lachte er höhnisch und sagte: „Das nächste Mal machen wir (aus ihm) eine Ofenladung.“ Dabei benützte Jean-Marie Le Pen das französische Wort fournée, das auch „Ladung“ (ohne Ofen) oder „Schub“ bedeuten kann. Deswegen, so Le Pen nachträglich, wäre „jeder Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg eine verrückte Interpretation von Schwachköpfen“.
Die Bezeichnung „Schwachkopf“ zielte auf den oben erwähnten FN-Vizepräsidenten Louis Alliot. Dieser und weitere FN-Politiker desavouierten erstmals den Gründer des Front National. Marine Le Pen rang sich allerdings erst zwei Tage später zu einer – spitzfindigen – Stellungnahme durch: Darin übernahm sie die Rechtfertigung ihres Vaters, indem sie von einer „böswilligen Interpretation“ sprach, fügte aber hinzu, dass er durch eine derartig interpretierbare Formulierung einen „politischen Fehler“ begangen habe. Auch nehme sie diese „Polemik“ zum Anlass, um „daran zu erinnern, dass der Front National jede Form von Antisemitismus verurteilt“.
Marine Le Pen kann und will sich nicht von ihrem Vater trennen, dem ideologischen Urgestein des FN – auch wenn sie bezüglich des Holocaust dem Anstand Genüge getan hat (sie bezeichnete den Holocaust als „Gipfel der Barbarei“). Sie verwahrte sich deswegen auch gegen eine Fraktionsbildung im EU-Parlament mit Parteien wie der ungarischen Jobbik oder der griechischen „Goldenen Morgenröte“.
Jüdische und muslimische FN-Wähler
Die Zähmung der antijüdischen Parteikader rund um ihren Vater ist für Marine Le Pen umso wichtiger, als sie sich als Verteidigerin der säkularen Republik gegen die Islamisten präsentiert. So erwähnte sie mehrmals die Bedrohung, denen Juden, Frauen und Homosexuelle in Vierteln ausgesetzt sind, in denen muslimische Migranten überwiegen. In ihrer Entourage sind aber Persönlichkeiten aktiv, die gegenüber den judenfeindlichen Strömungen um Dieudonné und Soral wohlwollende Neutralität signalisieren.
Bis heute haben sich die repräsentativen jüdischen Gemeindevertreter den Vereinnahmungsversuchen von Marine Le Pen widersetzt. Die Bedrohungslage der Juden in den ärmeren Vierteln wirkt freilich als Nährboden: Galten traditionell rund fünf Prozent der Wähler aus jüdischen Familien als FN-nah, so dürfte sich der Trend inzwischen verstärkt haben.
So wie es eine Minderheit jüdischer FN-Wähler gibt, existiert auch eine wachsende Minderheit muslimischer Wähler, die für Marine Le Pen stimmt. Wenn Juden und Muslime für den FN stimmen, sind vielfach dieselben Gründe wie für die restliche Bevölkerung ausschlaggebend, also die Jobkrise, die Angst vor der Kriminalität und die Suche nach einem Sündenbock. Aber darüber hinaus wählen Teile der Juden und Muslime zwei verschiedene Arten von FN. Jüdische Wähler können darin die schärfste Antwort auf die Bedrohung durch radikalisierte junge Muslime sehen, während aufseiten der muslimischen Wähler einige glauben, sie könnten ihrer Aversion gegen Israel und ihrer Judenfeindschaft eine Steigerungsstufe verleihen, indem sie für die von Jean-Marie Le Pen gegründete Partei stimmen.
Aber wenn ich Erfahrungen aus meiner Wohngegend berücksichtige, im nordöstlichen Teil von Paris, wo Sozialbauten, Mietskasernen und gediegenere Unterkünfte der Mittelschicht aneinanderkleben, dreht sich die Stimmabgabe für den FN überwiegend um eins: die kriminelle Energie von Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Darüber komme ich oft mit den Inhabern des Zeitungsladens vor meinem Haustor ins Gespräch. Das Geschäft wird von einem homosexuellen Paar geführt, das sich manchmal von Jugendlichen aus der Umgebung bedroht fühlt, sei es durch Anpöbelungen oder Diebstähle. Eine nahe Anrainerinitiative liegt im Dauerclinch mit einer lärmenden und dealenden Jugendbande.
Die überwiegend ältere Kundschaft des Zeitungsladens berichtet über Wohnungseinbrüche und Raubüberfälle auf offener Straße, manches vom Hörensagen und aufgebauscht, manches tatsächlich erlebt. Marine Le Pen ist bei etlichen dieser Kunden im Aufwind. Die beiden Ladenbetreiber wollen die FN-Chefin nicht an die Staatsspitze gelangen sehen, aber ihre jüngsten Wahlerfolge haben sie als Revanche erlebt für die kleinen Demütigungen und Belästigungen, denen sie gelegentlich ausgesetzt sind. Die beiden, keine Juden, platzieren ein jüdisches Wochenblatt an einer prominenten Stelle ihres Geschäfts, gleich neben der Kassa. Für die Zurschaustellung dieser Zeitung wurden die Ladenbetreiber von Maghrebinern mehrmals beschimpft.
Manchmal stellen sie mich, den deklarierten links-liberalen SP-Wähler, zur Rede, zuletzt, als Jugendliche, im Tross der Fans des algerischen Fußballteams während der WM, in französischen Städten der Polizei Straßenschlachten lieferten, Auslagen und Gemeindeeinrichtungen verwüsteten und an einigen Stellen französische Fahnen von öffentlichen Gebäuden rissen. Ich zog mich murmelnd aus der Affäre. Was sollte ich auch sagen? Darauf verweisen, dass es sich um eine Minderheit der Fans, die üblichen Hooligans, handelte? Zum x-ten Mal erklären, dass jugendliche Widerspenstigkeit und Verwahrlosung an den sozialen Rändern, besonders in Krisenzeiten, ein immer wiederkehrendes Phänomen sind? Dass es dies auch schon gab, bevor muslimisch-arabische und afrikanische Familien einzogen? Oder dem Ärger der beiden Ladenbetreiber zustimmen, weil ich mir die folgende Frage stelle: Wie würde ich reagieren, wenn man meine Klage über die Übergriffe gegen Juden durch Jugendliche aus Migrantenfamilien immerzu mit dem Verweis auf die sozialen Begleitumstände und den geringen Bildungsgrad der Täter relativieren würde?
*Foto Danny Leder : Jeff Mangione / KURIER
Literatur:
Vorangegangene Beiträge von Danny Leder im „Jüdischen Echo“ über die Situation der Juden und Muslime in Frankreich:
– „Die unheimliche Quadratur – Juden, Moslems, Resonanz des Nahostkonflikts und Jugendgewalt in Frankreich“, Das Jüdische Echo, Vol. 50, Oktober 2001.
– „Auf dem Weg ins globalisierte Abseits? Auch Frankreichs Juden, Europas größte jüdische Bevölkerung, unter Druck“, Das Jüdische Echo, Vol. 52, Oktober 2003.
– „Juden und Moslems in Frankreich – Kollision zweier Leidensgeschichten“, Das Jüdische Echo, Vol. 53, Oktober 2004.
– „Die Gefahr aus der Vorstadt. Bei Frankreichs Migrantenjugend greift altneuer Judenhass“, Das Jüdische Echo, Vol. 55, Oktober 2006.