Israels ungewöhnlichster Diplomat

ARI RATH INTERVIEW

Wer sind wir? Ist unsere Identität von unserem Geburtsort, von unserer ursprünglichen Nationalität bestimmt, oder ist die Persona ausschlaggebend, zu der uns das Exil – das erzwungene oder ein freiwilliges – geprägt hat?

Die frappierende Geschichte des jungen israelischen Diplomaten George Deek ist eine wahre Legende, die ein einzigartiges Kapitel einer neugeschaffenen Identität eines in Jaffa geborenen Palästinensers erzählt. Der dreißigjährige Deek ist Israels amtierender Botschafter in Oslo. Obwohl er niemals im israelischen Militär gedient hat, erklärte er den kritischen Norwegern, wie Israels Soldaten im letzten Gaza-Krieg immer wieder versucht hatten, Palästinenser vor einem Angriff zu warnen. Er beschrieb auch, wie Kämpfer der Hamas ihre Raketen in Moscheen und Krankenhäusern versteckten. Niemand konnte ahnen, dass er selbst ein Palästinenser ist.

Ende September 2014, als im Haus der Literatur in Oslo die norwegische Übersetzung des Buches „1948. A History of the First Arab-Israeli War“ von Benny Morris präsentiert wurde, entschloss sich George Deek zum ersten Mal, seine eigene Lebensgeschichte zu enthüllen. Sein Großvater George war 1948 mit seiner Familie von Jaffa nach Norden, in den Libanon, geflüchtet. Sie wurden von ihren palästinensischen Anführern gewarnt, dass „die Juden ein Massaker anrichten werden“, aber dass die ägyptische Armee Jaffa und Tel Aviv erobern werde und alle bald zurückkehren könnten.

Sein Großvater blieb mit der Familie viele Monate im Libanon. Er sah nur die Sackgasse eines Lebens als Flüchtling vor sich. Er war Elektriker in der Elektrizitätsgesellschaft im britischen Mandatsgebiet Palästina gewesen und hatte jüdische Freunde gehabt, die ihm sogar beibrachten, Jiddisch zu sprechen. 1947 heiratete er Vera, Georges Großmutter. Weil er mit Juden zusammenarbeitete und jüdische Freunde hatte, war er nicht von Hass erfüllt worden.

Vom Libanon aus konnte er mit einem seiner jüdischen Freunde Kontakt aufnehmen. Dieser half ihm, mit der Familie nach Israel zurückzukehren und sogar seine Arbeit bei der Elektrizitätsgesellschaft wieder zu erhalten.

Die Familie Deek ist griechisch-orthodox. Sie gehört der christlichen Minderheit innerhalb der israelisch-palästinensischen Minderheit an. Der junge George war in Jaffa auch Mitglied der griechisch-orthodoxen Pfadfinder. Bis heute marschiert er jedes Jahr bei der feierlichen Weihnachtsparade mit.

George Deek: In Jaffa geborener Palästinenser in Israels diplomatischem Dienst.

(Foto: Siv Dolmen)

 

Obwohl George Deeks Vater ein nationaldenkender israelischer Palästinenser ist, schickte er seinen Sohn in eines der besten jüdischen Gymnasien von Tel Aviv. Beim Redewettbewerb war er der Beste seiner Klasse. Nach der Matura studierte er an der Universität Tel Aviv Jus und eröffnete danach seine eigene Anwaltskanzlei.

Eines Tages sah er in einer hebräischen Zeitung ein Inserat, mit dem das israelische Außenministerium junge Bewerber für den diplomatischen Dienst suchte. Er meldete sich an, obwohl seine Freunde ihm sagten, dass er nicht die geringste Chance hätte, weil er nicht im israelischen Militär oder bei der Polizei gedient hatte. Der junge George Deek konnte ihnen das Gegenteil beweisen.

„Wir sollten auf unsere Identität stolz sein und gleichzeitig als eine ihren Beitrag leistende Minderheit wirken, in einem Land, das eine andere Nationalität, eine andere Religion und eine andere Kultur hat.“

Unter seinen vielen Verwandten, die in Israel leben, sind Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten und Universitätsprofessoren und natürlich auch weiterhin Elektriker. In seiner Ansprache in Oslo sagte er: „Wir haben gewonnen. Ich bin ein israelischer Diplomat und kein palästinensischer Flüchtling im Libanon, weil mein Großvater den Mut hatte, einen Entschluss zu fassen, der damals für andere undenkbar war.“

George Deek erzählte, wie schwierig es für seinen Großvater war, seine Familie im jungen jüdischen Staat großzuziehen. Er sprach auch über das persönliche Leiden seiner Familie, die zum Teil in der ganzen Welt zerstreut ist.

Jacob Hanna, innovativer Stammzellenforscher am Weizmann-Institut: Araber und Bürger Israels.

(Foto: Weizmann Institute of Science)

 

 

Zwei schlechte Optionen

Er kritisierte zugleich die Tatsache, dass „die Palästinenser Sklaven ihrer Vergangenheit geworden sind, die in der Welt des Hasses und der Ablehnung gefangen bleiben“. Doch dann sprach er hauptsächlich über den Weg nach vorn und über die Hoffnung. Deek erzählte von seinem Nachbarn Avraham, einem Überlebenden des Holocaust, der ihm beigebracht habe, immer in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit zu blicken. So konnten seine norwegischen Zuhörer begreifen, warum sich ein junger arabischer Palästinenser entschloss, sein Leben einer Karriere im diplomatischen Dienst Israels zu widmen.

„Wir sollten auf unsere Identität stolz sein und gleichzeitig als eine ihren Beitrag leistende Minderheit wirken, in einem Land, das eine andere Nationalität, eine andere Religion und eine andere Kultur hat“, sagte Deek. Und: „Wir sollen zum allgemeinen Wohlbefinden beitragen und in der Politik, in der Wirtschaft, in der Technologie und in der Wissenschaft ein integraler Teil von Israels ,Mainstream‘-Gesellschaft sein. Wir haben unsere eigenen Vorbilder“, berichtete Deek und nannte eine Reihe prominenter (christlicher) arabischer Israelis: „Salim Joubran, ein Richter des Obersten Gerichtshofs, der Bezirksrichter George Kara, der über einen jüdischen Präsidenten eine Gefängnisstrafe verhängt hat, Professor Jacob Hanna, ein wichtiger Forscher im Weizmann-Institut, und der Schriftsteller Anton Shammas, der die hebräische Sprache so bereichert hat wie Franz Kafka die deutsche.“

Seiner Meinung nach gibt es kein besseres Beispiel als die Juden in Europa, die ihre Identität und ihre Religion hunderte Jahre behalten haben und trotzdem das moderne europäische Denken Europas stark beeinflussen konnten. „Juden haben von derselben Dissonanz zwischen ihrer eigenen Identität und ihrer umgebenden Gesellschaft gelitten“, erklärte George Deek. „Ihr Erfolg kam nicht trotz, sondern wegen ihrer Verschiedenheit. Ich spreche von Spinoza, Marx, Einstein, Freud und Wittgenstein.“

Deek bedauerte die Tatsache, dass die Entscheidung seines Großvaters für Israels arabisch-palästinensische Minderheit nicht ein Beispiel ist. „Unglücklicherweise sind Israels arabische Bürger heutzutage gezwungen, zwischen zwei schlechten Optionen zu wählen. Die eine ist die Assimilation von jungen Palästinensern, die aussehen wollen wie ihre jüdischen Gleichaltrigen. Sie möchten so sprechen und sich so benehmen wie sie. Es ist ein trauriger Versuch, der letzten Endes scheitern muss.“

„Auf der anderen Seite besteht die allgemeinere Option, die von der arabischen politischen und religiösen Führung gefördert wird. Sie behaupten, dass wir Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft seien. Diese Einstellung schafft eine Trennung und führt zu Extremismus und Feindseligkeit gegenüber den Juden. Sie sprechen von einer arabischen kulturellen Autonomie und von Separation. Diese Richtung ist der Meinung, dass ein loyaler israelischer Araber sich hauptsächlich als Anti-Israeli definieren muss.“

Richter Salim Joubran: Ein Araber im Obersten Gerichtshof.

(Foto: Hadas Parush/Flash90/CC 0)

„Wir sollten mit Stolz dem dritten Weg folgen, auf dem wir als schaffende Minderheit zu den Erfolgen von Israels ,Mainstream‘-Gesellschaft wesentlich beitragen“, betonte George Deek zum Abschluss.

Meine Identität

Ich wurde vor über neunzig Jahren in Wien geboren und konnte im November 1938, acht Monate nach dem „Anschluss“, als beinahe 14-Jähriger mit meinem drei Jahre älteren Bruder noch rechtzeitig nach Palästina auswandern. Vor dem „Anschluss“ wollten wir nichts über eine mögliche Auswanderung nach Palästina – das Land Israel – hören. Es ist ein jüdisches Syndrom, dass man versucht, das Schlimmste zu verdrängen.

Wir führten ein verwöhntes Leben in einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Wien, wie die anderen 180.000 jüdischen Bürger der Hauptstadt, obwohl in Berlin Hitler schon fünf Jahre an der Macht war und in Österreich das austro-faschistische Regime von Dollfuß und Schuschnigg herrschte. Schon vier Jahre vor dem „Anschluss“ musste ich in einer separaten Judenklasse im Wasa-Gymnasium in die Schule gehen.

In Palästina wurden mein Bruder und ich in zwei verschiedenen Gruppen in einem Kibbuz und im Jugendheim „Ahawah“ in der Nähe von Haifa untergebracht. Vier Wochen nach unserer Ankunft in Haifa konnten wir uns wieder treffen. Wir entschlossen uns, von jetzt an miteinander nur Hebräisch zu sprechen und zu korrespondieren, obwohl unser Hebräisch damals noch ziemlich begrenzt war. Wir haben dieses Versprechen bis am Abend vor dem Tod meines Bruders im Februar 2014 gehalten.

Unsere Mutter hat Selbstmord begangen, als ich vier Jahre alt war. Ich war ein Kind, das niemals „Mama“ sagen konnte. Unser Vater wurde im Mai 1938 zusammen mit 3000 jüdischen Unternehmern, Rechtsanwälten, Ärzten und Wissenschaftlern als Häftling im KZ Dachau und später im KZ Buchenwald interniert. Er konnte noch Ende 1938 befreit werden, unter der Bedingung, dass er auf sein gesamtes Vermögen verzichtet und Deutschland innerhalb von 48 Stunden verlässt.

Ich werde meistens als Israeli mit Wiener Wurzeln vorgestellt. Das entspricht meiner Identität.

(Ari Rath)

 

 

Ari Rath

(Foto: Bernhard J. Holzner/Hopi-Media)

Logo FacebookLogo Twitter