Interview mit Franz Vranitzky „Ich hatte den Vorsatz, reinen Tisch zu machen“

Franz Vranitzky hat in den 1990er-Jahren als erster Bundeskanzler die Verantwortung von Österreichern für die Verbrechen der Nazizeit einbekannt und damit auch die Beziehungen zu Israel stark verbessert. Wie es dazu kam, warum er die Zusammenarbeit mit der FPÖ aufkündigte und was er vom derzeitigen Rechtsruck hält, schilderte er im Gespräch mit Erhard Stackl.

Altbundeskanzler Franz Vranitzky: Hat im Juli 1991 mit einer Rede die „Opferthese“ verabschiedet und zugleich das Verhältnis zu Israel verbessert

Foto: Christian Wind

 

 

Erhard Stackl: Herr Dr. Vranitzky, Ihre im Parlament gehaltene Rede vom 8. Juli 1991, in der Sie als erster österreichischer Regierungschef ein Bekenntnis zur Mitverantwortung von Österreichern an den Verbrechen der Nazizeit abgegeben haben, gilt heute als zeitgeschichtlicher Meilenstein. Wie ist es zu dieser Rede gekommen?

Franz Vranitzky: Es war dies die Zeit der Jugoslawienkriege. Im Parlament wurde heftig darüber diskutiert, wie das Nachbarland Österreich diese Krise einzuschätzen und damit umzugehen hätte. Ich hatte mich schon früher mit dem Gedanken getragen, dass man etwas gegen die „Opfertheorie“ machen muss. Mir schien das ein geeigneter Zeitpunkt zu sein, um – eh spät genug – zu sagen: Natürlich sind diese fürchterlichen Ereignisse in Jugoslawien etwas, das uns bekümmern muss, aber wir sollten auch auf unsere eigene Vergangenheit schauen und erkennen, dass sich in der NS-Zeit und schon davor, in den 1930er-Jahren, Österreicher ebenfalls an Gräueltaten, an Gewalttaten und Diskriminierungen anderer österreichischer Staatsbürger beteiligt haben. Das habe ich dann in diese Rede gekleidet. Und damit wurde erstens die Opferthese verabschiedet und zweitens hat es dazu beigetragen, dass unser Verhältnis zum Staat Israel ein normales geworden ist. Das hat sich dann weiter ausgedehnt und fortentwickelt durch einen offiziellen Besuch in Jerusalem. Es war nicht nur ein offizieller Besuch, sondern auch ein sehr gutes und freundschaftliches Einvernehmen mit den damaligen politischen Führungskräften in Israel – im wesentlichen Jitzchak Rabin und Schimon Peres. Auch zu Teddy Kollek.

Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens hatte kurze Zeit davor begonnen und es gab da auch eine innenpolitische Komponente, weil die ÖVP der Meinung war, man sollte Slowenien und Kroatien rasch als unabhängige Staaten anerkennen. Sie haben da einen Zusammenhang hergestellt, indem Sie sagten, eine moralische Autorität werde nur dann ernst genommen, wenn sie sich auch zu den Verstrickungen in der NS-Zeit bekennt.

Franz Vranitzky 1993 in der Gedenkstätte Yad Vashem: Hat beim Besuch in Jerusalem den Begriff von der „kollektiven Verantwortung“ geprägt

Foto: Ohayon Avi/Israel Government Press Office

 

 

Ja, es gab innenpolitischen Zank zwischen den zwei Koalitionsparteien, wobei besonders Außenminister Alois Mock (ÖVP) davon ausging, dass Österreich durch eine rasche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens als Schrittmacher in Europa gelten könnte und sich dann auch andere Staaten anschließen würden. Nicht zuletzt, weil Österreich – wie Mock sich ausdrückte – einen sehr guten Ruf in Europa habe, ein Kenner der Verhältnisse auf dem Balkan zu sein. Ich habe gesagt, das würde nicht ausreichen, weil es auch andere Staaten und Regierungen gibt, die die europäische Geschichte und Geografie kennen. Und außerdem: Ein Schrittmacher ist ja nur dann ein Schrittmacher, wenn ihm jemand folgt. Wenn er ganz allein geht, ist er kein Schrittmacher. Und ich habe überhaupt keine Anhaltspunkte dafür gehabt, dass uns andere Staaten folgen würden. Ich habe diesbezüglich auch mit Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher (damals Deutschlands Kanzler respektive Vizekanzler – Anm.) gesprochen, die für ihre Seite eine vorzeitige Anerkennung abgelehnt und für einheitliche Schritte der EU-Mitgliedstaaten plädiert haben. Wir waren damals noch nicht EU-Mitglied, aber in diesem Zusammenhang habe ich es für richtig gehalten, wenn wir uns den EU-Mitgliedern anschließen – und so geschah es auch.

Die Worte zur NS-Zeit, die Sie vor dem Parlament im Juli 91 gefunden haben, die kamen im letzten Teil dieser Rede. Dazwischen gab es noch eine Passage über die nach 1938 wegen der Schaffung eines Truppenübungsplatzes vertriebenen Bauern von Döllersheim und Allentsteig. Hatten Sie das schon länger vorbereitet?

Natürlich. Ich habe mich schon längere Zeit mit dem Vorsatz getragen, hier einmal reinen Tisch zu machen. Und dieser Tag, an dem wir die Jugoslawienkrise parlamentarisch beraten haben, hat sich dann sehr rasch angeboten.

Historiker merken an, dass auf die Themen Restitution und Wiedergutmachung in der Rede nicht konkret eingegangen wurde. Ich nehme an, auch das war Absicht, weil das eine Angelegenheit für wahrscheinlich später kommende Verhandlungen sein musste?

Richtig, das musste erst aufgebaut werden.

Aber es war Ihnen klar, dass nach Ihren Worten so etwas kommen wird?

Es war so eine Art Startschuss. Letztendlich ist ja, schon nach meiner Amtszeit, die ganze Maschinerie geschaffen worden, die das dann – vom Parlament ausgehend – übernommen hat.

Begonnen wurde das durch den 1995 gegründeten „Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“ aber schon in Ihrer Amtszeit?

Ja.

1993 wurden Sie nach Jerusalem eingeladen, Sie erhielten die Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität von Jerusalem. Dort haben Sie eine weitere wichtige Rede gehalten, die ich im Amphitheater auf dem Skopusberg mitverfolgen konnte. Sie haben darin das Thema „Kollektivschuld“ angesprochen und dafür eine neue Formulierung gewählt: „kollektive Verantwortung“ – wie kam es dazu?

„Kollektivschuld“ kann man nicht sagen, weder im juristischen noch im moralischen Sinn, weil es ab dem März 1938 die Republik Österreich nicht gab. Und wenn man davon ausgeht, dass nicht jeder einzelne Einwohner Österreichs hier Schuld auf sich geladen hat, sondern eben nur eine bestimmte Gruppe, dann kann man nicht von Kollektivschuld reden.

Wie waren in Österreich die Reaktionen auf Ihre Rede? In Israel habe ich die sehr positiven selbst miterlebt. Gab es hierzulande auch negative?

Kaum. Der Journalist Richard Nimmerrichter, der damals als „Staberl“ in der „Kronen Zeitung“ schrieb, hat es eine „überflüssige Fleißaufgabe“ genannt, aber sonst ist mir nichts Widersprüchliches in Erinnerung.

In diesen Jahren haben sich die Beziehungen zwischen Österreich und Israel tatsächlich verbessert. Speziell seit dem Abgang von Bundespräsident Kurt Waldheim und der Wahl von dessen Nachfolger Thomas Klestil 1992. Bundespräsident Klestil hat dann im November 1994 vor der Knesset in Jerusalem gesprochen. Da hatte ich den Eindruck, dass er in seinen Formulierungen vorsichtiger, zurückhaltender war als Sie. Er hat zur NS-Vergangenheit Wörter wie „Verstrickung“ und „Verdrängung“ gebraucht.

Das sind eben auch verschiedene Temperamente.

Für 1996 war ein Besuch Jitzchak Rabins in Österreich geplant. Doch am 4. November 1995 wurde Rabin in Tel Aviv ermordet. Sie nahmen als offizieller Vertreter Österreichs an Rabins sehr imposantem Begräbnis auf Jerusalems Herzl-Berg teil. – Aber wenn man etwas zurückblendet: Dass die Beziehungen Österreichs zu Israel schlecht geworden waren, das hing ja mit dem Amtsantritt von Kurt Waldheim als Bundespräsident im Jahr 1986 zusammen. Es kam zu einer Art Isolation Österreichs – international, nicht nur gegenüber Israel – und Sie waren plötzlich auch der wichtigste außenpolitische Vertreter Österreichs.

Das war darauf zurückzuführen, dass die Staatengemeinschaft sich mehr oder weniger in zwei Lager gespalten hat: in die einen, die mit dem Dr. Waldheim sehr zufrieden waren und ihn geschätzt haben – das waren im Wesentlichen die arabischen Länder und die kommunistischen, „volksdemokratischen“ Länder –, und in die anderen – das waren der europäische Westen sowie die USA und Kanada –, die auf Distanz zu ihm gegangen sind. In dieser Atmosphäre wären auch Staatsbesuche, diplomatische Reisen des Bundespräsidenten, nicht möglich gewesen. Es hat sich sogar so abgespielt, dass ich andere Regierungschefs in Österreich zu Gast hatte – aber nicht in Wien. Wir haben uns in Salzburg oder Innsbruck getroffen, weil die Gäste gemeint haben, wenn sie nach Wien kämen, dann könnten sie aufgrund ihrer eigenen innenpolitischen Situation den Bundespräsidenten nicht aufsuchen, was aber unhöflich gewesen wäre. Deshalb bat man um ein Treffen an einem Ort außerhalb Wiens.

Das führte dann aber zu einer beträchtlichen Belastung Ihrer Arbeit. Es gibt da Berichte aus dem Jahr 1988, wo Sie in einer Fernseh-„Pressestunde“ quasi explodiert sind und gesagt haben „er oder ich“ und „so kann man nicht arbeiten“. Das hat viel Energie gekostet?

Es war vor allem ein ewiger Erklärungsaufwand. Als ich Finanzminister war (1984–1986 – Anm.), bin ich von der niederländischen Regierung gefragt worden, ob Österreich einen finanziellen Beitrag zur Wiedererrichtung der Synagoge in Amsterdam leisten könnte. Ich habe zugesagt, der Ministerrat hat es beschlossen, und wir haben dann einen bestimmten Betrag erbracht. Einige Zeit später, als ich schon im Kanzleramt war, wurde diese renovierte Synagoge feierlich eröffnet. Die niederländische Königin hat mich dazu eingeladen und ich bin auch hingefahren. Schon am Flughafen Schiphol musste ich eine ziemlich große Schar von Journalisten wahrnehmen, die kein anderes Thema hatten als Waldheim. In den Niederlanden ist Österreich besonders durch die Seyß-Inquart-Zeit1 in schlechter Erinnerung. Die waren in ihren Fragestellungen ziemlich aggressiv: Wieso kann ich Regierungschef unter einem Bundespräsidenten Waldheim sein? Ob ich den Waldheim nicht entlassen könne? Ich habe Ihnen erklärt, dass es genau umgekehrt ist. Einer hat mich gefragt, ob mein Vater bei der Wehrmacht war. Als ich darauf Ja sagte, fragte man: „Warum ist er nicht desertiert?“ Das ist so auf mich eingeprasselt. Und Amsterdam war nur ein Beispiel. Bei einem Besuch in Kanada war es genauso, und es war vor allem auch durch ausländische Journalisten in Österreich verursacht.

Franz Vranitzky mit Rabbi Yehuda Getz, der 27 Jahre lang für die Betenden und die Besucher an der Klagemauer zuständig war

Foto: Ohayon Avi/Israel Government Press Office

 

Eine zusätzliche Belastung war: Dr. Waldheim hat großen Wert darauf gelegt, mit mir innigen Kontakt zu halten – wegen der Historikerkommission und allem, was damit zu tun hatte. Immer war er – aus seiner Sicht verständlich – unzufrieden, dass schon wieder jemand irgendetwas geschrieben hat. Da hat er mich oft angerufen oder gebeten, in die Präsidentschaftskanzlei zu kommen – das war wirklich ein sehr unüblicher Zeitaufwand. Mit den „Findings“ der Historikerkommission war er auch unzufrieden2. Als der Bericht der Kommission vorlag, wollte er, dass ich ihn zurückziehe, aber das war unmöglich, das hätte ja wiederum Waldheim und auch der Bundesregierung geschadet.

Bereits im Jahr 1988, das ja auch ein Erinnerungsjahr war, haben Sie gesagt, es werde in Österreich eine „selbstkritische Reflexion“ notwendig sein. Haben Sie damals schon vorgehabt, etwas in diese Richtung zu unternehmen?

Ja, stimmt. Aber ich war natürlich auch unter dem Eindruck der Zeitgeschichtler, die immer wieder von den Regierungen vor mir berichtet haben, wo man nicht bereit war, sich mit dem Holocaust und anderen Gräueltaten auseinanderzusetzen. Da gibt es den berühmten Satz von Innenminister Oskar Helmer, der 1948 zu jüdischen Entschädigungsforderungen sagte: „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen.“ Das waren Sätze, die kritische Journalisten immer wiederholt haben.

Vranitzky mit Kurt Waldheim und Außenminister Alois Mock: Der Bundespräsident habe großen Wert darauf gelegt, mit dem Kanzler „innigen Kontakt zu halten“

Foto: picturedesk/Klaus Titzer

 

 

Gab es für Sie auch eine persönliche Motivation, diese Fragen anzugehen?

Es gab insofern eine persönliche Motivation, als meine Eltern eine sehr ausgeprägte antifaschistische Grundhaltung hatten und ich als Kind, als Schüler aus Gesprächen Erwachsener, die ich mithörte, von Judenverfolgung und Konzentrationslagern schon erfahren habe – vielleicht nicht mit vollem Verständnis, aber doch. Dazu kam, dass wir in einem Haus gewohnt hatten, welches einer streng nationalsozialistischen Familie gehörte. Und diese Familie hat uns „Untermenschen“ auch so behandelt. Es gab immer irgendwelche Streitigkeiten und Herabwürdigungen. Und da ist in mir, zusätzlich zu dem, was ich von meinen Eltern mitgekriegt habe, eine ziemlich starke antifaschistische, antinationalsozialistische Haltung gewachsen. Als Jugendlicher habe ich sie natürlich nicht ausgelebt und das hätte auch gar keinen Sinn gehabt. Aber als ich dann erwachsen wurde, hatte ich mir dieses Gedankengut schon angeeignet, und ich musste von niemandem trainiert werden, ich habe das schon in mir gehabt.

Hat diese Grundhaltung 1986, als Jörg Hader mit ewiggestrigen Nebengeräuschen an die FPÖ-Spitze geputscht wurde, dazu geführt, dass Sie sofort die damalige rot-blaue Regierungskoalition aufgekündigt haben? Jetzt betonen manche Verteidiger von Türkis-Blau, die SPÖ wäre ja auch schon in einer Koalitionsregierung mit den Freiheitlichen gewesen. Kann man die FPÖ unter Norbert Steger mit der heutigen vergleichen? Steger hat ja anscheinend schon versucht, die Partei von NS-Nostalgikern zu säubern.

Das war eine Zeitspanne, in der die Sozialdemokratie – zuerst unter der Führung von Kreisky und dann von Sinowatz – davon ausgegangen ist, mit dem liberalen Teil der Freiheitlichen zusammenarbeiten zu können. Das führte zur Koalition Sinowatz-Steger. 1986, als Bundeskanzler Fred Sinowatz das Amt verließ und die Partei es mir übertrug …

Ziemlich gleichzeitig mit dem Amtsantritt von Waldheim als Bundespräsident …

Genau. Das war der Auslöser für den Rücktritt von Sinowatz. Ich hatte damals tatsächlich eine Koalition mit Steger und einigen anderen FPÖ-Ministern, aber bereits in dieser Zeit hat sich gezeigt, dass das Modell Sinowatz – wonach ein liberaler Flügel der Freiheitlichen mit der SPÖ koalitionsfähig wäre – schrittweise aufgeweicht wurde und nicht mehr funktioniert hat. Warum? Jörg Haider ist von Kärnten aus gar nicht so sehr gegen die SPÖ, sondern gegen seine eigenen Leute vorgegangen. Er hat Steger immer etwas ausgerichtet. Haider war nicht gut zu sprechen auf seine eigenen Parteifreunde in der Bundesregierung. Und so ist Stegers Reputation immer schwächer geworden. Dann kam dieser Putschparteitag der Freiheitlichen in Innsbruck am 13. September 1986 – das Ergebnis ist bekannt. Ich habe dann gesagt, ich bin nicht in der Lage, diese Regierungszusammenarbeit fortzusetzen, weil es gar keine Zusammenarbeit mehr war. Und es wurden auf diesem Parteitag Töne laut, die inakzeptabel waren. Da wusste ich schon von der Schwierigkeit Haiders, sich vom nationalsozialistischen Gedankengut klar zu distanzieren …

Sein Spruch von der „ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich“…

Ja, zum Beispiel. Und dann kam noch etwas hinzu, was mich persönlich gestört hat: Haider hat mich ein paar Tage vor diesem Parteitag angerufen und das Gespräch so begonnen: „Ich werde wahrscheinlich am Wochenende Parteiobmann. Machen wir zwei Dynamischen“ – so hat er das gesagt – „eh in der Regierung weiter.“ Und ich habe gesagt: Ich habe einen aufrechten Koalitionsvertrag mit Dr. Steger, ich kann nicht hinter seinem Rücken mit Ihnen ein Agreement treffen. Darauf sagte Haider: „Das ehrt Sie sehr“ – und damit war das Gespräch aus. Vom Parteitag hat mich dann Steger fünf oder sechs Mal angerufen. Beim ersten Anruf war er noch sehr zuversichtlich, dass er wieder als Obmann gewählt wird. Doch mit jedem Anruf ist seine Zuversicht schwächer geworden. Am Schluss hat er dann 37,6 Prozent bekommen.

In der Sozialdemokratie hat es viele Leute gegeben, zu viele, die unter der NSDAP sehr gelitten haben. Entweder materiell – jüdische Staatsbürger, aber auch nicht-jüdische – oder mit Leib und Leben, indem sie eingesperrt oder KZ-Häftlinge wurden. Mit meiner antifaschistischen Grundhaltung habe ich es nicht für möglich gehalten, eine Koalition mit der Haider-Partei zu bilden, die nicht imstande war, sich vom nationalsozialistischen Gedankengut zu trennen, das so viel Leid und so viele Probleme für Sozialdemokraten gebracht hat. Das hätte ich dieser Partei nicht zutrauen können oder sie wäre in zwei Teile zerfallen. Das war ein ganzes Bündel von Überlegungen und Argumenten.

Aber in der Phase mit Steger – ihm haben Sie abgenommen, dass er versucht, in eine andere Richtung zu gehen?

Ich habe ihm das abgenommen, musste aber dann leider zur Kenntnis nehmen, dass einige gewichtige freiheitliche Abgeordnete im Nationalrat gar nicht seiner Meinung waren mit dieser modernen freiheitlichen Annäherung. Steger wollte in Richtung FDP gehen. Da gab es einen Abgeordneten, der hieß Emil van Tongel, und dann waren da noch andere, und die haben Steger an den Rockschößen zurückgehalten. Die Hauptfigur war natürlich Jörg Haider.

Nach dieser Episode kam eine Neuauflage der großen Koalition mit der ÖVP und mit Alois Mock als Vizekanzler. In den 1990er-Jahren gab es die starke Verbesserung der Beziehungen zu Israel, von der wir gesprochen haben. Aber wenige Jahre nach Ihrem Ausscheiden aus der Regierung Anfang 1997 ging es damit wieder bergab. Als um die Jahrtausendwende Schwarz-Blau I regierte, hat Israel wieder die diplomatische Vertretung in Österreich zurückgestuft. Und jetzt, mit der neuen Variante „Türkis-Blau“, hat die israelische Regierung mitgeteilt, dass sie mit von der FPÖ nominierten Ministern keinen direkten Kontakt haben will. Das ist zwar, im Vergleich zu früher, etwas abgeschwächt …

… aber deutlich genug.

Premierminister Jitzchak Rabin empfing 1993 Bundeskanzler Franz Vranitzky in Jerusalem: Zum geplanten Gegenbesuch kam es nicht mehr

Foto: Saar Yaacov/Israel Government Press Office

 

Bei diesem Auf und Ab fragt man sich, wie die Österreicherinnen und Österreicher dazu stehen. Sie sagten mir, dass es zu Ihren Initiativen zur Verbesserung des Verhältnisses zu Israel keine negativen Reaktionen gab. Der Wunsch nach guten Beziehungen scheint aber nicht sehr tief verankert zu sein – oder gibt es da sozusagen „konjunkturelle“ Schwankungen?

Was wir jetzt in Österreich und in anderen europäischen Staaten erleben, nämlich eine Bewegung nach rechts, hat mehrere Ursachen. Ich bin ein ziemlich überzeugter Verfechter des europäischen Gedankens, eines einigen Europa. Es sind noch nicht alle Geschichtsbücher geschrieben, aber ich bin nicht sicher, ob nicht eine Befürchtung wahr wird, dass die Zuneigung der Bürger zu den Nationalstaaten eine größere ist, als die Gründerväter des europäischen Modells das erwartet haben. Anders ausgedrückt, je mehr Beseitigung der Grenzbalken, je mehr Gemeinsames, umso mehr werden auch die Einstellungen so mancher Bürger wach, doch lieber ihrem Nationalstaat zuzugehören. Das hat mehrere Ursachen. Ich behaupte, dass eine Mehrzahl der europäischen Regierungen – Österreich inklusive – viel zu wenig Europapolitik gemacht hat. Die zweite Überlegung: Die Migration, bei der viele Staatsbürger Sorge haben, dass Erreichtes, Erkämpftes im Lauf der Migration infrage gestellt wird, dass sie etwas abzugeben haben, etwas verlieren. Das alles bedeutet das Anwachsen der Sympathie für Rechtsparteien, welche ja ebenfalls den Nationalstaat in den Mittelpunkt ihrer Auffassungen stellen. Und von Integration, von Globalisierung und von Schengen etc. viel weniger halten als die anderen, die nicht nach rechts rücken. Da landen wir jetzt bei Ihrer Frage, dass wir im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit Entwicklungen konfrontiert sind, die wir schon als erledigt betrachtet haben. Aber gerade die Migration ist etwas, das uns erst mit dem Aufflammen der Kämpfe nach dem sogenannten Arabischen Frühling heimsucht. Das ist schon eine gewisse Tragik der Europäer und für die Europäer, auch für die Migranten, dass das Abgehen von diktatorischen Verhältnissen in Tunesien, in Ägypten und in anderen arabischen Ländern auch vom Westen als „Arabischer Frühling“ akklamiert wurde, eigentlich, wie man in Wien sagt, „überhaps“. Denn man hat ja noch in den Wochen, bevor das akklamiert wurde, mit den alten Diktatoren politische Beziehungen aufrechterhalten, Wirtschaftsbeziehungen gepflegt usw. …

Ägyptens Präsident Hosni Mubarak war nicht lang vor seinem Sturz zu Besuch in Wien …

Es ist zu ganz auffälligen weltpolitischen Ereignissen gekommen, wenn man etwa die Rolle Saudi-Arabiens betrachtet – auf der einen Seite, Rebellen zu unterstützen, die meist auch gegen die USA agieren, und gleichzeitig ist Saudi-Arabien ein verlässlicher Freund der Amerikaner. All das hat uns in eine Gemengelage versetzt, bei der ich verstehe, dass diese Umwälzungen für so manche Staatsbürger kein angenehmes Bild ergeben. Wenn dann die Rechtsaußenleute daher kommen – und manches Mal auch die Linken – und sagen: „Vergesst Brüssel, wir regeln unsere Angelegenheiten selber“, dann entsteht diese Bewegung nach rechts, nicht nur in Österreich. Man muss auch hinzufügen: Es ist bedauernswert, dass es den wenigsten Regierungen in der Europäischen Union gelingt, durch eine offensive und aktive Europapolitik den Sinn und den Nutzen der Integration den Bevölkerungen zu erklären. Der Sinn und der Nutzen ist doch der, dass wir auf der ganzen Welt riesige Blöcke haben, Player, mit denen wir uns messen müssen – das sind vor allem China, Russland und die USA. Und wenn da wir, die 500 Millionen Europäer, nicht zu einer Einigkeit finden, dann werden wir dieses Kräftemessen auf Dauer nicht bestehen. Man sieht ja, zu welchen Auswüchsen es kommen kann in den Visegrád-Staaten, wo ja ganz offen die Politik vertreten wird, das gemeinsame europäische Modell tragen wir nicht oder nur auf unsere Art mit.

Als Beobachter hat man den Eindruck, dass verschiedene Regierungspolitiker in den einzelnen europäischen Staaten die Ängste sehen, die Sie beschrieben haben, dass sie diese zum Teil auch schüren („Wir werden überrollt“) und dass dann diese Probleme als viel größer empfunden werden, als sie tatsächlich sind. Hätten Politiker überhaupt eine Chance, durch eine klare Sprache, durch konkretes Ansprechen der Probleme, durch Leadership die Menschen zu beeinflussen – oder ist es jetzt quasi unser Schicksal, dass die Gesellschaft nach rechts geht und man das allenfalls bremsen, aber keine andere Richtung einschlagen kann? Gäbe es mit entsprechender Leadership die Chance auf einen Kurswechsel?

Ich stehe auf dem Standpunkt, dass diese Chance lebt. Aber Chancen leben nur dann, wenn sie wahrgenommen werden. Wir sehen ja in vielen Mitgliedstaaten der EU eine Erosion der traditionellen Volksparteien. Und wenn eine große Volkspartei an Stimmenverlust leidet, dann leidet auch ihre Überzeugungskraft, beziehungsweise die Courage, sich für eindeutige Positionen einzusetzen, weil befürchtet wird, dass es wieder Stimmen kosten könnte, wenn man nicht der eigenen Bevölkerung, den mehr nach rechts Tendierenden, zustimmt. Das ist eine Crux, die man überall erleben kann. Wir hatten in Italien gerade ein paar Jahre hindurch republikanische und demokratische Regierungen – jetzt geht es wieder nach rechts. In Frankreich ist es gelungen, den Front national zurückzudrängen, aber auch nicht durch eine traditionelle Volkspartei, sondern durch einen „Cheerleader“. Auch Deutschland ist ein Beispiel dafür, dass die großen, traditionellen Volksparteien monatelang darum kämpften, eine Regierung zusammenzubringen und das Experiment „Jamaika“ (die nach den Farben der Flagge dieses Landes, Schwarz-Grün-Gelb benannte und in Deutschland verhandelte, aber nicht zustande gekommene Regierungskoalition von CDU/CSU, Grünen und FDP – Anm.) das einmal ein anderer Weg gewesen wäre, offenbar keine Chance hatte.

Aus Ihrer jahrzehntelangen Erfahrung: Erleben wir jetzt eine Phase, die relativ bald wieder überwunden werden kann, oder ist zu befürchten, dass die von Ihnen skizzierten Entwicklungen – bis zum mancherorts stattfindenden Rückbau der Demokratie – noch lange so weitergehen?

Es darf sich niemand darauf verlassen, dass das so rasch verschwindet wie schmelzender Schnee. Ich glaube, alle jene Politiker sind auf dem richtigen Weg, die sich sehr einsetzen und sich bemühen, ein bereites Bildungsangebot für die Bevölkerung zu machen. Weil gerade die Bildung dazu führt, dass man historische Ereignisse richtig einschätzen kann und dass man Ereignisse der Gegenwart für sich richtig interpretiert. Da geht es auch um das Vermeiden von Irrwegen. Bildungsinitiativen haben eine lange Wirkungsdauer. Es ist ja nicht so, dass ein junger Mensch ein Gymnasium oder eine Neue Mittelschule besucht und damit schon alle politischen Zusammenhänge erkennen kann. Das muss in der jungen Generation aufgebaut werden. Sie werden einmal erwachsen und sollen die Gesellschaft tragen. So gesehen wird man die Absicherung der Demokratie, das Hochhalten einer qualitativ angesehenen Demokratie, nie aus den Augen verlieren dürfen. Das ist eine permanente Arbeit.

1 Der österreichische Nationalsozialist Arthur Seyß-Inquart war nach dem Rücktritt Kurt Schuschniggs am 11. März 1938 Österreichs Bundeskanzler, allerdings nur bis zum 13. März 1938, dem Tag des „Anschlusses“ an das Deutsche Reich. Er übernahm danach weitere Führungsaufgaben für das NS-Regime. 1940 ernannte Hitler ihn zum Reichskommissar für die besetzten Niederlande. Dort war er verantwortlich für die Deportation von über 100.000 niederländischen Juden in Vernichtungslager, für Niederschlagung von Streiks und die Erschießung von Widerstandskämpfern. Nach 1945 gehörte er zu den im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher angeklagten Personen. Er wurde am 1. Oktober 1946 hingerichtet.

2 Die auf Bitte Waldheims von der Regierung Vranitzky eingesetzte internationale Historikerkommission kam im Februar 1988 zu dem Schluss, Waldheim habe mehr gewusst, als er angab. Er habe sich in der Nähe zu Kriegsverbrechen befunden. Es wurde ihm aber keine persönliche Beteiligung vorgeworfen.

 

Die Fragen wurden auf Basis von Arbeiten der Wissenschaftler Gerhard Jagschitz, Cornelius Lehnguth und Oliver Rathkolb erstellt.

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