„Flucht, ein Widerspruch: Man will bleiben, muss aber weg“, Vorwort von Leon Widecki

Leon Zelman s. A., geboren 1928 in Polen, wurde als 12jähriges Kind mit seiner Familie in das Ghetto Łódź deportiert, wo er seine Eltern verlor. 1944 wurden er und sein Bruder in das KZ Auschwitz überführt, wo auch sein Bruder ums Leben kam. Er selbst ist in das KZ Ebensee, ein Außenlager des KZ Mauthausen überstellt worden, das am 6. Mai 1945 befreit wurde.

Wir Jüdinnen und Juden sind – salopp formuliert – „Expert:innen“, wenn es um Flucht und Vertreibung geht: Bereits 568 v. Chr. sind Tausende von uns nach der Zerstörung der beiden Reiche Israel und Juda durch die Babylonier entweder ins Ausland geflohen oder wurden vertrieben. 

Zwischen dem „Anschluss“ im März 1938 und Jänner 1939 flohen rund 65.000 Menschen, die von den Nazis nur wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum verfolgt wurden, aus jenen Teilen des Deutschen Reichs, die heute Österreich sind. Tausende Kinder und Jugendliche wurden in „Kindertransporten“ in Sicherheit gebracht. England etwa nahm 7.000 bis 8.000 Kinder und Jugendliche auf. Tausende Flüchtlinge verdankten ihr Überleben dem Mut und dem Einsatz einzelner Männer und Frauen, die sich nicht am Rassenwahn der Nationalsozialisten beteiligt hatten.

Eine weitestgehend in Vergessenheit geratene Geschichte von Flucht, Emigration und Vertreibung ist jene der Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern. Stephan Grigat schreibt in der taz: „In Israel wird seit 2014 der 30. November als Gedenktag an Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran begangen. Außerhalb Israels ist die Vertreibung der Juden aus den islamisch dominierten Staaten jedoch weiterhin nahezu unbekannt. Wer weiß schon etwas über die Pogrome im marokkanischen Oujda und Jérada von 1948? Oder über den Farhud in Bagdad (jenes Pogrom von 1941, das den Auftakt für das Ende der über zweieinhalbtausend Jahre alten jüdischen Gemeinde im Irak bildete)? Das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge gilt oft als ein Haupthindernis einer Übereinkunft zwischen Israel und den Palästinensern. Die etwa 900.000 Juden hingegen, die seit der Staatsgründung Israels 1948 aus den arabischen Staaten und seit 1979 aus dem Iran geflohen sind, finden in gegenwärtigen Debatten zum Nahen Osten kaum Erwähnung.“

Die Flüchtlingskrise 2015 und der brutale Angriff Russlands auf die Ukraine haben zu einer enormen Zahl von in Europa ankommenden Flüchtlingen geführt. Auch wenn es erhebliche Unterschiede zur Verfolgung der Jüdinnen und Juden sowie anderer Opfer vor, während und nach der Shoah gab und man historische Analogien vermeiden sollte – einige Parallelen lassen sich doch feststellen.

Vom Holocaust kann die Welt lernen, was passiert, wenn für die Probleme nicht auf internationaler Ebene Lösungen gesucht werden. Die Regierungen der von der Flüchtlingswelle betroffenen Länder, zu denen auch die österreichische gehört, müssen den Grundsätzen der Stockholmer Erklärung von 2000 verpflichtet bleiben, welche den Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit einschließt. Flucht ist traumatisierend: Man sucht Sicherheit, muss dafür aber oft sein Leben aufs Spiel setzen. Und Flucht ist paradox: Man muss Recht brechen, nämlich illegal Grenzen passieren, um zu seinem Recht auf Asyl zu kommen.

Unser neuer leitender Redakteur Christian Schüller war für den ORF in Lateinamerika, berichtete aus den USA, war in Moskau beim Zusammenbruch der Sowjet-union dabei, arbeitete als erster ORF-Korrespondent in der Türkei und im Iran und war Mitgründer und langjähriger Leiter der ORF-Reportagereihe „Am Schauplatz“.

Ich bedanke mich bei (meinem ehemaligen El-Al-Security-Kollegen) Christian Schüller für seine Bereitschaft, an den nächsten Kapiteln in der über 70-jährigen Geschichte des Jüdischen Echos maßgeblich mitzuwirken, und für seine hervorragende Arbeit, die er rund um seine erste Ausgabe des Jüdischen Echos zum Thema „Flucht und Vertreibung“ geliefert hat. Aus so vielen unterschiedlichen, stets interessanten Blickwinkeln wurde diese Materie noch selten bis nie abgehandelt. Mein Dank gilt in besonderem Maße auch Susanne Trauneck, Irina Abajew, Peter Schwarz, Siegmar Schlager, Nini Tschavoll und Christian Zillner. Sie haben auch dieses Mal dafür gesorgt, dass Sie wieder ein spannendes, anspruchsvolles Jüdisches Echo in Händen halten.

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