Feindbild Meinungsfreiheit von Rubina Möhring

 

Wer auf das Menschenrecht der Meinungsfreiheit pocht, wird mundtot gemacht und landet auf schwarzen Listen. Das war während der Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts so, das ist auch heute wieder vielerorts zunehmend der Fall.

Schon siebzig Jahre erlebt Kontinentaleuropa eine Friedenszeit, auch heute erreichen nicht alle Menschen dieses Alter. Es ist die längste Friedens- und damit Wohlstandszeit, die je dem europäischen Kontinent gegönnt war. Schon 1914 waren die europäischen Gesellschaften erstaunt, dass sie damals bereits gut dreißig Jahre lang Frieden hatten durchleben dürfen – entsprechend langweilig scheint ihnen auch geworden zu sein. Nicht wenige begrüßten jene verbale und militärische Aufrüstung, die den Ersten Weltkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts einleitete; als willkommene Abwechslung und als nicht minder willkommene Gelegenheit, sich endlich wieder in militärischem Outfit und soldatesken Posen zu gefallen. Es war übrigens auch die Zeit wachsender Fremdenfeindlichkeit und eines bisher so nicht gekannten Antisemitismus.

Lange sollte der Kriegsrausch bekanntlich dann doch nicht dauern. Zu groß war die Zahl der Opfer, zu tief das Leid, zu lang währten die schier endlos wirkenden vier Kriegsjahre. „Flucht aus dem Frieden – wie der Erste Weltkrieg gemacht wurde“ hatte ich eine historische Dokumentation genannt, die ich siebzig Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges des zwanzigsten Jahrhunderts als ORF-Beitrag für den Prix Italia 1984 produziert hatte. Ein Film, der übrigens lange Zeit auch Schulen als Unterrichtshilfe diente. – Fliehen wir auch heute wieder aus dem zur Gewohnheit und damit langweilig gewordenen demokratischen Frieden?

1918 begann eine neue Zeitrechnung, staatspolitisch, ideologisch, gesellschaftspolitisch. Europas zuvor imperiale Staaten versuchten sich nun in demokratischen Strukturen. Der Rest dieser Geschichte ist leidvoll bekannt: in Österreich die Austrofaschisten, ansonsten im Westen Europas Hitler, Mussolini, Franco und Konsorten, in Osteuropa Stalin, um nur einige der damaligen „Best of Böse“ zu nennen.

Mit steten Volksbegehren und Volksbefragungen hatte Hitler übrigens zumindest in Deutschland das Ansehen der Weimarer Republik, einer repräsentativen Republik, wie es heute auch die österreichische ist, solange untergraben, bis er sich 1933 selbst an die Macht wählen lassen konnte. Kaum zum Führer erkoren, schaltete er auch die Medien gleich. Zeitungen jüdischer Verleger wurde noch im selben Jahr zunächst verboten, politische Kommentare zu schreiben, schließlich wurden die Redaktionen gänzlich geschlossen.

Menschenverachtung war wieder gesellschaftsfähig geworden, mehr noch, Menschenverachtung stand mit einem Mal auf der Tagesordnung, wurde zu einem der obersten Gebote. Menschen wurden in klassifizierende Kategorien eingeteilt: in Gute und Böse, in Vertraute und Fremde, in Wahlberechtigte und nicht zur Wahl Zugelassene, in ordentliche und rechtlose Mitglieder der Gesellschaft, in bezahlte und unbezahlte Arbeitskräfte, in Freiwillige und Zwangsarbeiter/-innen, in Freunde und Feinde. Letztere wurden nach einer perfiden Mixtur aus Demütigungen und Folter schließlich auch physisch getötet. Sichtbar und nachvollziehbar wird dabei, wie fließend der Übergang vom Meinungsverbot zum Mord an Meinungsmenschen ist bzw. sein kann. Im Sinne eines „Nie wieder“ wurde deshalb am 10. Dezember 1948 in New York die UN-Menschenrechtskonvention aus der Taufe gehoben.

Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit sind jene im Artikel 19 der UN-Menschenrechtskonvention festgehaltenen Grundrechte, die erfahrungsgemäß besonders sensible Gradmesser für demokratiepolitisches Bewusstsein darstellen. Wo den Medien das freie Wort und von der Politik oder Machtkartellen unzensierte Beiträge verwehrt sind, wo investigativer Journalismus und auch nur leiseste Kritik am Staat und dessen Verwaltung verwehrt sind, da ist zumindest der Verdacht, es mit einer demokratiefeindlichen Lenkung des Staates und der Gesellschaft zu tun zu haben, nicht unbegründet.

 

Benito Mussolini, Adolf Hitler, Josef Stalin: „Best of Böse“ auf Briefmarken

Foto: Olga Popova / Shutterstock, Withgod / Shutterstock, Irisphoto1 / Shutterstock

Medien und deren Redaktionen werden in solchen Systemen zu Feindbildern, das Recht auf Meinungsfreiheit zur Ursache, zum Ursprung dieses Bildes. Gefragt und erlaubt sind schließlich irgendwann nur noch journalistische Liebedienerei und Hofberichterstattung. Wer hingegen auf das Menschenrecht Meinungsfreiheit pocht, wird mundtot gemacht und landet auf schwarzen Listen. Das war während der Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts so, das ist auch heute wieder mancherorts Usus. Nicht die freie Meinungsäußerung und freie Informationen stehen inzwischen am höchsten im Kurs, angesagt ist vielmehr ein verschärftes Law-and-Order-Denken, beim so genannten Volk, bei politischen Parteien und deren Fußvolk, auch bei Regierenden.

Politologe Charles Gati: Einstiger Orbán-Mentor kritisiert „gelenkte Demokratie“

Foto: Tamas Kovacs / EPA / picturedesk.com

 

Unter dem Titel „Magie der harten Führer“ beschreibt Stefan Ulrich diese Tendenzen in der „Süddeutschen Zeitung“. „Trump, Putin, Erdoğan. Weltweit haben Politiker, die Härte demonstrieren, besonders großen Zulauf.“ Die heutigen Populisten seien zwar nicht mit Mussolini oder gar Hitler zu vergleichen, sie benutzten jedoch ähnliche Machttechniken. Der Autor zitiert aus dem Jahresbericht 2015 der britischen Economist Intelligence Unit: „In unserem Zeitalter der Angst ist die Freiheit oft das erste Opfer von Furcht und Unsicherheit.“ Ungefähr die Hälfte der heutigen Staaten seien Demokratien, doch nur in zwanzig Ländern lebten die Menschen in voll ausgeprägten Demokratien. Der Übergang von Demokratien zu Diktaturen allerdings ist schleichend und wird zumeist erst dann in seiner ganzen Tragweite wahrgenommen, wenn er bereits passiert ist.

„Eine Diktatur richtet mehr Schaden an, als man glaubt. Eine Diktatur leidet an inneren Schäden, an inneren Blutungen. In einer Diktatur ist nur Schweigen, Stille.“ So kommentierte der am 15. Juli 2016 verstorbene ungarische Schriftsteller Péter Esterházy noch in einem Ö1-Interview die massiven Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit unter Ministerpräsident Viktor Orbán, der seit 2010 Ungarn mit harter Hand regiert. Das Interview wurde am 17. Juli als Nachruf wiederholt, zufällig gerade nach der Niederschlagung des Putschversuches in der Türkei.

In Esterházys Ungarn hatte Viktor Orbán, kaum an die Macht gekommen, begonnen, der Medien- und Meinungsfreiheit den Garaus zu machen und die Verfassung entsprechend zu ändern. Öffentlich-rechtliche Medien wie TV, Radio und nationale Nachrichtenagentur wurden zum Beispiel zu einem redaktionellen Info-Komplex verschmolzen. Private Sender wurden schikaniert.

Ungarn, so urteilt der ungarisch-amerikanische Politologe und ehemalige US-Regierungsberater Charles Gati – einst von Orbán als Mentor hoch verehrt ‒, sei inzwischen eine „gelenkte Demokratie“. Viviane Reding, damals noch EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, sprach gar von einer „Putinisierung Ungarns“ und einer „systematischen Gleichschaltung, wie sie in totalitären Regimen stattfindet“.

Pro-Erdoğan-Demo in Istanbul: Unabhängige Journalisten als verhasstes Feindbild

Foto: Thomas Koch / Shutterstock

 

 

 

„Eine Diktatur richtet mehr Schaden an, als man glaubt, schrieb Péter Esterházy. Eine Diktatur leidet an inneren Schäden, an inneren Blutungen. In einer Diktatur ist nur Schweigen, Stille.“

Orbán sei, so hoffte man in der EU, ein zu autokratischen An- und Zumutungen neigender Einzelgänger unter den Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten. Damals allenfalls vergleichbar mit dem demokratiepolitischen Sonderfall Silvio Berlusconi in Italien. Heute – knapp sechs Jahr später – mehren sich jedoch inner- und außerhalb der Europäischen Union Anwärter für die Rolle „Nachahmungstäter“; demokratiegefährdende Populisten und Politikerinnen, die ebenso aufgrund demokratischer Wahlen ganz legal bereits an die Macht gekommen sind bzw. an die Macht kommen wollen. Feindbilder sind in solchen Ländern durchaus nicht nur kritische in-, sondern ebenso ausländische Journalist/-innen.

Ein Beispiel: Das Freund-Feind-Schema nennt der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Polen-Experte Martin Pollack diese Methodik und erklärt sie anhand der im Herbst 2015 mit großer Mehrheit gewählten Regierung in Polen. An die Macht kam damals die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Pollack beschreibt, wie sich die Hinweise verdichten, dass die graue Eminenz der PiS, Jarosław Kaczyński, im Hintergrund straff die Zügel führt; dies offenbar mit dem Ziel, die Strukturen der bisherigen liberalen Demokratie zu eliminieren und ein autoritäres Regime zu errichten, das nach seiner Pfeife tanzt.

 

Ex-EU-Kommissarin Viviane Reding sprach von einer „Putinisierung Ungarns“

Foto: cc sa-by 2.0 / Wikimedia

 

Zunächst wurden die Verfassung geändert und der Verfassungsgerichtshof ausgehebelt. Die notwendige parlamentarische Mehrheit hierfür war und ist ja gegeben. Öffentlich-rechtliche Medien, allen voran TV, Radio und nationale Nachrichtenagentur, erhielten im Ruckzuckverfahren regierungstreue Führungskräfte. Offiziell stehen diese Medien natürlich nicht unter Kuratel der Regierung, nur ihre Sendungen erinnern fatal an untertänigste Hofberichterstattung.

Ein klarer Fall von Brainwashing beim Publikum? Jedenfalls ein eindeutiger Verstoß gegen Meinungs- und Informationsfreiheit, jener Grundrechte also, die auch in der EU-Konvention zum Schutz der Menschenrechte explizit genannt sind. Protegiert wurde in Polen zugleich der nationalistisch-klerikale Sender Maryja des Medieninhabers Pater Tadeusz Rydzyk. Vorübergehend wurden in dessen Sender sogar die Nachrichtensendungen von Mönchen in langen Kutten moderiert. Diente hier als Vorbild gar der 2012 gegründete ägyptische Privatsender Maria TV, in dem nur Frauen, die den Niqab tragen, also vollverschleiert sind, arbeiten dürfen – ausnahmslos. Auch die Moderatorinnen sind allenfalls nur an ihren Augen oder Stimmen erkennbar.

Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention – 1950 als Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom Europarat formuliert und 1953 in Kraft getreten – wurde erstmals in Europa ein völkerrechtlich verbindlicher Grundrechtsschutz geschaffen, der von jedermann einklagbar ist. Laut EU-Website ist dies das wichtigste Menschenrechtsübereinkommen in Europa.

Dem EU-Mitgliedsstaat Polen allerdings dürfte das ziemlich gleichgültig sein. Martin Pollacks Artikel war am 1. Mai in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ erschienen ‒ zwei Tage vor dem internationalen Tag der Pressefreiheit. Etwas später erreicht die Redaktion ein Schreiben, in dem polnische Repräsentanten von Pollack die „Richtigstellung seiner Thesen“ einfordern. Der Brief wurde „zur Kenntnisnahme“ auch an höchste politische Amtsträger geschickt. Das war und ist ein Zensurversuch in Reinkultur.

Der heuer verstorbene Schriftsteller Péter Esterházy: Entwicklung in Ungarn beklagt

Foto: cc 0 1.0 / Wikimedia

 

 

Das polnische Kulturinstitut in Wien beendete entsprechend flugs auch die Zusammenarbeit mit Martin Pollack, der bis dahin sehr erfolgreich Diskussionsabende im Auftrag des Institutes geleitet hatte. Ein Journalist mit ausgezeichneter Expertise wurde damit des Hauses verwiesen. Warum: weil journalistische Schönfärberei nicht seine Sache ist. Was Pollack besonders ehrt: Bereits in den 1980er-Jahren wurde über ihn seitens des damaligen kommunistischen Regimes in Warschau wegen seine regimekritischen Berichterstattung ein Einreiseverbot verhängt. Die heutige polnische Regierung ehrt gerade dieses Faktum weniger. Dennoch hat diese Politik offenbar Signalwirkung.

Siebzig Jahre Friedenszeit, so alt werden, wie gesagt, auch noch heute manche Menschen nicht. Jene Menschen, die seit 1945 den Nachkriegsgenerationen das Einmaleins humanistischen Denkens gelehrt hatten, haben begonnen, uns zu verlassen. Ebenso die Augenzeugen, die die Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts überlebt haben.

Inzwischen ist auch diese Zeit nur noch ein in Geschichtsbüchern abgehandeltes Kapitel. Diesen Eindruck hatte man ganz deutlich bei der Entscheidung des damaligen US-Präsidenten George W. Bush, auf das Attentat auf das Word Trade Center in New York vom 11. September 2001 mit Vergeltungsschlägen gegen vermeintliche Drahtzieher in Afghanistan zu reagieren und damit einen Flächenbrand im Nahen und Mittleren Osten auszulösen.

In den USA wurden damals durch den Patriot Act Meinungs- und Informationsfreiheit stillgelegt. Das amerikanische Antiterrorgesetz machte aus einer freien Bürgergesellschaft eine überwachte. Erst am 1. Juni 2015 lief der Patriot Act unter Präsident Obama aus. Dennoch hatte diese „Notstandsgesetzgebung“ durchaus für andere demokratische Länder Vorbildcharakter. Auf der Strecke bleiben die Bürgerrechte und damit auch das Menschenrecht auf freie Meinung und Information.

Wohin das im Extremfall führen kann, zeigt die Entwicklung in der Türkei seit dem fatalen Putschversuch Mitte Juli dieses Jahres. Jede Person, jede Persönlichkeit, die verdächtig war oder auch nur verdächtigt wurde, Sympathisant oder gar Mitwissender gewesen zu sein, wurde gnadenlos verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Journalist/-innen, Wissenschaftler/-innen, Intellektuelle, Rechtskundige, Richter/-innen, Beamt/-innen jedweder Art. In kürzester Zeit wurden über 40.000 Menschen festgenommen, die Haftanstalten waren heillos überfüllt. Der Putschversuch hatte dem türkischen Präsidenten die Gelegenheit gegeben, radikal unter allen ihm möglichweise, vielleicht auch nur angeblich kritisch gegenüberstehen Bürgern und Bürgerinnen des Staates aufzuräumen. Schon zuvor hatte Präsident Erdoğan erfolgreich Medien und Journalist/-innen kujoniert, gegen sie Anzeige erhoben und sie vor Gericht gebracht. Manche sprechen von präsidialer Willkür. Der Putsch hatte bekanntlich am 15. Juli begonnen. Der 15. Juli war zufällig auch der Todestag des ungarischen Schriftstellers Péter Esterházy. Wie eine Glocke hat sich seitdem jenes von Esterházy beschriebene Schweigen auch über die Türkei gestülpt.

Eine Stille und ein Schweigen, das schon seit langem auch Russland beherrscht. Spätestens seit Präsident Vladimir Putin für „sein Land“ die Definition einer gelenkten Demokratie gefunden hat, werden die kritischen Stimmen immer leiser. Auf der Presse- und Informationsfreiheit-Rangliste von Reporter ohne Grenzen, für die 180 Staaten analysiert werden, steht Russland übrigens auf Platz 148.

Sind andererseits bei uns Informations- und Meinungsfreiheit nach wie vor ein „Freundbild“? Die Übernahme und Kreation diffamierender Formulierungen wie „Lügenpresse“ oder der „Austrittslüge“ ‒ führende FPÖ-Mitglieder versuchten sich so im Sommer 2016 nach dem „Brexit“ des Vereinigten Königreiches von eigenen, früher erhobenen Forderungen nach einem EU-Austritt zu distanzieren ‒ lassen nichts Gutes ahnen.

Im Gegenteil. Hingewiesen sei hierbei auch darauf: Diffamierungen und Desavouierungen sowie Geschichtsklitterung und -verdrehung wie die „Auschwitzlüge“ haben mit dem Menschenrecht auf Meinungsfreiheit nicht das Geringste zu tun.

 

Foto Rubina Möhring: Reporter ohne Grenzen/privat

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