Erinnern für die Zukunft von Werner Hörtner

 

 

 

Sehr spät – aber doch besser als nie – setzte in Österreich eine Gedächtniskultur an die Opfer des Holocaust ein. In immer mehr Städten erinnern sogenannte Stolper- oder Gedenksteine an Juden, Roma und Sinti, Zeugen Jehovas und andere Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie.

Vergangenheitsbewältigung in Hinblick auf das nationalsozialistische Schreckensregime trat in Österreich lange hinter dem Nachkriegsmythos auf Basis der „Opfer- und Pflichterfüllungsthese“ zurück. „Schlussstrich“ und „Stunde Null“ waren die Dogmen der Zeit, der Wiederaufbau des zerstörten Landes und die Wiedererlangung der staatlichen Identität genossen oberste Priorität. Es dauerte fast ein halbes Jahrhundert, bis eine Erinnerungs- und Gedenkkultur an die Verbrechen dieser Zeit aufkam, und erst mit dem Jahr 2008, siebzig Jahre nach der Besetzung Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938 und dem darauffolgenden November-Pogrom, kann man den Beginn einer breiten, öffentlich geförderten Erinnerungspolitik ansetzen.

Bereits 1995 war der Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus gegründet worden, der mit zahlreichen Projekten die Gedenkarbeit über die dunkelste Epoche der Geschichte Österreichs förderte. Mit Gedenktafeln und -stätten wurde der Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes gedacht. Im Gedenkjahr 2008 wurde zudem klar, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch eine Auseinandersetzung mit der Zukunft impliziert.

„Hunderte Unschuldige wurden in Mariahilf (dem sechsten Wiener Gemeindebezirk, Anm.) aus rassistischen, politischen, religiösen und aus sonstigen ideologischen Gründen, auch wegen ihrer sexuellen Orientierung, deportiert und ermordet. Zum ehrenden Andenken an diese Menschen sollen in Mariahilf bleibende

Gunter Demnig: Der deutsche Künstler hat bereits in mehreren Ländern die von ihm „Stolpersteine“ genannten Gedenktafeln verlegt.

Foto: Karin Richert

 

 

Gedenkobjekte geschaffen werden, nicht zuletzt mit dem Ziel, ähnlichen Tendenzen in Gegenwart und Zukunft entgegenzutreten.“ Dieser Auszug aus dem – einstimmig angenommenen – Beschluss dieses Wiener Bezirks steht stellvertretend für alle ähnlichen Initiativen der letzten zwei Jahrzehnte in Österreich.

Wer mit offenen Augen durch österreichische Städte oder Gemeinden geht, dem fallen die in Gehsteigen eingelassenen Messingplatten oder die an Hauswänden angebrachten Tafeln mit kurzen biografischen Angaben zu den Opfern des nationalsozialistischen Terrorregimes auf: mehrheitlich Juden, aber auch Roma und Sinti, Widerstandskämpfer und -kämpferinnen, Wehrdienstverweigerer der Zeugen Jehovas, Homosexuelle und geistig behinderte oder sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Insgesamt fielen über 100.000 Österreicherinnen und Österreicher den verschiedenen Formen der Verfolgung durch das Naziregime zum Opfer.

Initiiert hat diese Form der Erinnerungskultur der 1947 geborene deutsche Künstler Gunter Demnig. Mit seinen „Stolpersteinen“ ist er mittlerweile berühmt geworden. Seit Ende der 1990er-Jahre verlegt er Messingplatten mit den persönlichen Daten von Menschen, die dem NS-Terror zum Opfer gefallen waren. Alle Platten folgen demselben Muster: Sie sind zehn mal zehn Zentimeter groß, eingestanzt sind das Datum der Festnahme oder Deportation und der Ort der Tötung, der Hinrichtung oder des Verschwindenlassens. Bis Mitte 2013 hat Demnig über 40.000 solcher Steine verlegt.

Gedenkstein vor dem Raimundtheater für 13 deportierte Bewohnerinnen und Bewohner der Wallgasse in Wien-Mariahilf.

Foto: Ulli Fuchs

 

Die meisten in Deutschland, aber auch in Österreich, Belgien, Ungarn, Norwegen und selbst in Russland sind sie zu finden. Er rühmt sich, damit das größte dezentrale Denkmal der Welt geschaffen zu haben.

Kritiker bemängeln, dass Demnig an dem Gedenkunternehmen verdiene. Für Herstellung und Verlegung eines Steines verlangt er 120 Euro. Andere beanstanden die Namensgebung „Stolperstein“. So etwa Kilian Franer, Initiator des 2007 angelaufenen Projekts „Erinnern für die Zukunft“ in Wien-Mariahilf: „Wir haben in unserem Bezirk keine Stolpersteine. Wir legen vielmehr Wert darauf, dass niemand bei uns stolpert, weil wir unseren Bezirk barrierefrei gestalten wollen. Ich weiß schon, dass der Ausdruck metaphorisch gemeint ist, aber dennoch lehnen wir ihn ab.“

Kritik geübt wird auch am De-facto-Monopol, das der Künstler für die Gedenksteine beansprucht. Er will nicht, dass andere Initiativen dieses Erinnerungsprojekt aufgreifen, ist aber selbst so ausgebucht, dass Interessierte sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen.

Elisabeth Ben Hindler-David aus der Wiener Leopoldstadt ist so etwas wie die österreichische Pionierin dieser Form des Erinnerns an die Opfer des Nazi-Terrors. „Es war im Jahr 2005. Mein Onkel aus Israel, der Bruder meiner Mutter, wollte in Wien eine Wandtafel am Haus seiner Eltern anbringen, eine Gedenktafel für meine Großeltern in der Porzellangasse im neunten Bezirk. Ich habe die Hausverwaltung kontaktiert. Die Hausbesitzerin hat sich strikt geweigert.“

Kinder der Hausbewohner, die in der Jägerstraße im 20. Wiener Bezirk die Verlegung eines Gedenksteins initiiert haben.

Foto: Verein Steine der Erinnerung

 

„Mein Onkel hat mich dann auf das Projekt von Herrn Demnig verwiesen, wo man die Steine in den Boden versetzt. Wir haben ihm geschrieben, doch er antwortete, er hätte erst in einem Jahr Zeit. Ich bin dann zur Bezirksvorstehung gegangen und habe gefragt, ob man solche Gedenksteine in den Boden einsetzen dürfe, und die hat durchaus positiv reagiert. Für Herbst 2005 wurde dann die Steinlegung vereinbart. Ich habe mir dann gedacht, wenn man im neunten Bezirk so etwas macht, könnte man das doch ausweiten. Auch im zweiten Bezirk, der Leopoldstadt, wo vor 1938 rund 45 Prozent der Bevölkerung jüdisch waren, zeigte sich die Bezirksvorstehung einverstanden. Im Zuge der Umgestaltung des Volkertplatzes wurde dann im November 2005 mit einer großen Zeremonie eine ,Straße der Erinnerung‘ eröffnet.“

Mit den im Gehsteig eingelassenen Gedenksteinen und an den Häusern angebrachten Wandtafeln sollen die Vorübergehenden zum Nachdenken angeregt werden. Es ist eine Bewusstseinsarbeit, eine Form der Vergangenheitsbewältigung; die Ermordeten erhalten wieder einen Platz in ihrer Heimat.

Diese Sichtbarmachung der Schicksale der Menschen und die Möglichkeit, etwas dazu beizutragen, hat viele Wienerinnen und Wiener veranlasst, sich an den Projekten des Vereins zu beteiligen und auch selber initiativ zu werden. Mittlerweile hat der Verein in 14 Wiener Bezirken Steine gesetzt und 1100 jüdischer Frauen, Männer und Kinder gedacht.

Besonders wichtig sind die Steine für die Angehörigen, die zu den Eröffnungszeremonien aus der ganzen Welt anreisen. Für sie sind die Steine der Erinnerung symbolische Grabsteine für ihre Lieben, die kein Grab haben.

Das Gedenkprojekt in Mariahilf ist ein besonderer und einmaliger Fall, sind hier doch die Opfer der NS-Diktatur so gut wie vollständig erfasst. Kilian Franer, Bezirksrat im sechsten Bezirk und dort Vorsitzender der Kulturkommission, war in Mödling mehr oder weniger zufällig auf solche Gedenksteine gestoßen. „Da bin ich zur Überzeugung gekommen, man muss diesen namenlosen Opfern wieder ihren Namen zurückgeben – diesen Respekt sind wir ihnen schuldig. Es kam uns zugute, dass wir eine fast vollständige Opferliste für den sechsten Bezirk hatten. So konnten alle Opfer namentlich erfasst werden.“ Insgesamt wurden schließlich Gedenksteine und -tafeln für 841 deportierte und ermordete Personen verlegt.

Gedenkstein für die Holocaustopfer Malke und Frieda Dinger vor dem Haus Krummbaumgasse 2 im zweiten Wiener Bezirk.

Foto: Verein Steine der Erinnerung

 

 

Es wurden auch noch einige Opfer vom Spiegelgrund aufgenommen. In dieser verharmlosend „Kinderfachabteilung“ genannten Anstalt in Wien sind zwischen August 1940 und Juni 1945 mindestens 789 Kinder und Jugendliche ermordet worden. Es war bei den Gedenkprojekten von vornherein klar, dass die Gedenksteine und -tafeln für alle Opfer verlegt werden.

Bei der Abstimmung in der Bezirksvertretung sprachen sich ausnahmslos alle Parteien für das Projekt aus. Auf die Frage, warum denn auch die FPÖ zugestimmt habe, meint Projektkoordinatorin Ulli Fuchs: „Die wollten sich einfach keine Blöße geben. Außerdem interessiert der Kulturbereich die Freiheitlichen sowieso nicht. Das ganze Geld für die Verlegungen ist ja vom Nationalfonds der Republik gekommen. Ein Großteil des Kulturbudgets des Bezirks wurde für eigens zu diesem Schwerpunkt entwickelte Kulturveranstaltungen gewidmet.“

Chronologisch betrachtet, war das Land Salzburg Vorreiter bei den Gedenksteinen. Schon im Juli 1997 kam es in St. Georgen bei Salzburg zur ersten Verlegung von Stolpersteinen für zwei hingerichtete Zeugen Jehovas, durchgeführt von Gunter Demnig. Initiator war der Politologe und Gedenkdienst-Gründer Andreas Maislinger. In der Stadt Salzburg organisiert das „Personenkomitee Stolpersteine“ die Verlegungen und die entsprechenden Aktivitäten. Ihm gehören bereits 280 Personen an. Seit dem August 2007 bis Anfang Juli 2014, dem Zeitpunkt der letzten Verlegung, wurden 240 dieser Erinnerungsobjekte angebracht. Leider ist Salzburg auch Ort heftiger Störaktionen. 2011 wurden drei Stolpersteine entwendet, im Herbst des Vorjahres wurden 31 Gedenksteine mit Teer beschmiert. Ein zwanzigjähriger, einschlägig vorbestrafter Tatverdächtiger aus der rechtsextremen Szene wurde im Oktober 2013 verhaftet.

Auch im historisch schwer belasteten Bezirk Braunau am Inn erinnern von Demnig eingesetzte Stolpersteine an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors. Auch hier war Andreas Maislinger der Ideengeber des Projekts. Das Einlassen der Messingtafeln in die Gehsteige hat für ihn auch einen wichtigen Nebeneffekt: „Es geht darum, auf den Boden zu schauen, sich vor den Opfern zu verbeugen. Und man wird an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnert.“

Literatur:

Christian H. Stifter (Hg.), Hinter den Mauern des Vergessens … Erinnerungskulturen und Gedenkprojekte in Österreich, Spurensuche, Nr. 1–4/2009, Bezug: office@vhs-archiv.at.

Kilian Franer/Ulli Fuchs (Hg.), Erinnern für die Zukunft, Wien 2009

 

Gedenkinitiativen und Projekte

Mit Ausnahme des vom Bezirksrat beschlossenen Projekts „Erinnern für die Zukunft“ im sechsten Wiener Gemeindebezirk gehen alle anderen Gedenkprojekte auf Privatinitiativen zurück. Auch finanziert werden sie großteils aus privaten Quellen und über Patenschaften für die Steine. im Juni und Juli 2014 wurden österreichweit an die siebzig neue Gedenksteine verlegt, und zwar in Hohenems, Salzburg, Braunau und Graz.

Informationen zu den einzelnen Initiativen:

www.jm-hohenems.at, www.hohenems.at (hohenems)

www.hrb.at/stolpersteine (Braunau)

www.verein-fuer-gedenkkultur-Graz.at (Graz)

www.stolpersteine.salzburg.at (Stadt Salzburg)

www.erinnern-fuer-die-zukunft.at (Wien, 6. Bezirk)

www.steinedererinnerung.net (Wien, Verein Steine der Erinnerung)

www.erinnern.at (Überblick über ganz Österreich)

https://de.nationalfonds.org (Nationalfonds der Republik)

www.steinedesgedenkens.at (Wien, 3. Bezirk, Initiative von Gerhard Burda)

www.wien.gv.at/kultur-freizeit/erinnern.html (Stadt Wien verweist auf Orte der Erinnerung)

 

*Werner Hörtner (Foto: Irmgard Kirchner / Südwind)

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