Die ultimative Utopie: Unsterblichkeit von Erhard Stackl

Er ist eine Mischung aus Jules Verne und Thomas Edison: Der nach „radikaler Lebensverlängerung“ forschende US-Futurologe und Erfinder Ray Kurzweil, dessen Eltern 1938 vor den Nazis aus Wien flüchten mussten.

 

Eine Makrele zum Frühstück! Die Reporterin der britischen „Financial Times“ staunte nicht schlecht, als sie frühmorgens in San Francisco das Apartment von Ray Kurzweil betrat, um mit dem weltbekannten Futurologen und Erfinder ein Interview zu führen. Auf weißem Porzellan lag die Mahlzeit vor ihnen: frische Beeren, dunkle Schokolade und Haferbrei, Sojamilch und Grüner Tee, mit Stevia gesüßt, und dazu eben geräucherter Fisch. In einem Druckverschlussbeutel waren dreißig Pillen vorbereitet, ein Drittel der Tagesration an Medikamenten, vor allem Nahrungsergänzungsmittel, mit denen der drahtige 69-Jährige seinen körperlichen Zustand zu optimieren versucht.

Als er 35 war, sei bei ihm Diabetes Typ 2, also Insulinmangel bzw. Insulinresistenz, diagnostiziert worden, erzählte Kurzweil. Außerdem befürchtete er, er könnte eine Herzkrankheit bekommen. Sein Vater Fredric Kurzweil, ein aus Österreich stammender Dirigent und Pianist, starb mit 58 daran. Der Sohn war damals 22.

Ray Kurzweils Selbstoptimierungsprogramm ist keineswegs eine private Spinnerei, sondern Teil einer Utopie, die im kalifornischen Silicon Valley angeblich zum Nutzen der gesamten Menschheit realisiert werden soll: die „radikale Lebensverlängerung“. Im Umfeld weltweit führender Hightech-Unternehmen werden derzeit Milliarden von Dollars in einschlägige Forschungsprogramme investiert. Und fast immer haben die Investoren auch ein persönliches Motiv: einen früh verstorbenen nahen Verwandten oder die Veranlagung zu einer lebensbedrohenden Krankheit.

Mit seinem strikten Ernährungsregime wolle er nur die Zeit überbrücken, bis die Forschung in zehn, 15 Jahren ganz neue Ergebnisse bringt, versichert Kurzweil. Skeptiker versucht er mit seinen bisherigen Erfolgen als Erfinder zu überzeugen. Auf sein Konto geht die Entwicklung des Flachbettscanners und des ersten brauchbaren Computerprogramms zur optischen Texterkennung (OCR). Für Blinde erfand er ein Gerät, das ihnen Texte vorliest. Der blinde Sänger und Songschreiber Stevie Wonder war davon so begeistert, dass er Kurzweil anregte, ein elektronisches Musikinstrument zu bauen, das den exakten Klang eines Konzertflügels erzeugt.

Mehr als ein Dutzend Universitäten zeichneten Kurzweil mit Ehrendoktoraten aus. US-Wirtschaftsmagazine nennen den Erfinder, der für einige seiner Projekte eigene Firmen gründete und dann verkaufte, ein „rastloses Genie“ und den „legitimen Erben Thomas Alva Edisons“.

Seit 2012 ist Kurzweil, der auch ein halbes Dutzend Bestseller verfasst hat, allerdings Angestellter bei Google, und zwar als „director of engineering“, als Verantwortlicher für die technische Entwicklung, vor allem von Spracherkennung und künstlicher Intelligenz. Zu dieser Zusammenarbeit sei es gekommen, als er dem Google-Mitbegründer Larry Page ein Vorausexemplar seines Buches „The Singularity Is Near“ schickte (auf Deutsch 2013 unter dem Titel „Menschheit 2.0: Die Singularität naht“ bei Lola Books Berlin erschienen). Mit „Singularität“ meint Kurzweil den Moment, zu dem die artifizielle Intelligenz die menschliche überflügelt, was noch vor 2050 eintreten soll. Bei der Singularität handle es sich „um einen Zeitabschnitt, in dem der technische Fortschritt so schnell und seine Auswirkungen so tief sein werden, dass das menschliche Leben einen unwiderruflichen Wandel erfährt“, schreibt Kurzweil. Diese Epoche werde „viele grundlegende Vorstellungen umkrempeln“, und zwar „einschließlich des Todesbegriffs“. Page war von dem Buch beeindruckt. Er bot Kurzweil an, für seine Forschungen die überragenden Kapazitäten des Weltkonzerns Google zu nutzen.

2013 gründete Google zudem die Firma Calico (California Life Company) zur Erforschung von Alterungsprozessen und stattete sie mit einer Milliarde Dollar aus. Ray Kurzweil agiert dort als Berater. Aber auch Sergey Brin, der zweite Google-Gründer, ist an den Forschungen persönlich interessiert: er hat eine Prädisposition für die Parkinson-Krankheit. Es gehe ihnen aber nicht darum, einigen Silicon-Valley-Milliardären ein ewiges Leben zu ermöglichen, versichert man bei Calico. Die Erkenntnisse sollen allen Menschen zugutekommen.

In Forschungslabors habe die biotechnische Revolution schon begonnen, sagt Ray Kurzweil (hier bei seinem Aufritt in Wien)

 

 

Ray Kurzweil hat den Weg zur extremen Langlebigkeit schon mehrfach skizziert. Demnach bilden die die gegenwärtigen Möglichkeiten (gesunde Ernährung und Lebensführung) die erste Brücke dorthin. Zur zweiten Brücke führe eine bereits jetzt in Gang befindliche „biotechnische Revolution“. Bisher würden Medikamente ungenau und mit zahlreichen Nebenwirkungen funktionieren. Da es die computerunterstützte Medikamentenentwicklung ermöglicht, enorme Datenmengen auszuwerten, lassen sich Heilmittel zielgenau (und nach individuellem Bedarf) produzieren. Als Beispiel nennt der Forscher ein körpereigenes Enzym, das das sogenannte „gute Cholesterin“ zerstört. Wenn es gelingt, dieses Enzym zu blockieren, kann das Auftreten von Arteriosklerose verhindert werden. Es gebe tausende Beispiele, wie weitere gefährliche Krankheiten, darunter auch Krebs und Virusinfektionen, mit besseren Medikamenten erfolgreich bekämpft werden können.

In einem Vierteljahrhundert werde dann die dritte Brücke zum (fast) ewigen Leben stehen. Sie beruht auf der Nanotechnologie und der Überzeugung, dass winzige Roboter von der Größe eines Blutkörperchens, sogenannte Nanobots, in den menschlichen Blutkreislauf eingeschleust werden können. Diese Nanobots sollen von außen programmierbar sein wie Apps am Handy. Sie sollen Krankheiten bekämpfen, aber auch die Fähigkeiten des Gehirns, ja die Intelligenz insgesamt, enorm erweitern. Umgekehrt soll es auch möglich sein, in einem menschlichen Gehirn gespeichertes Wissen auf einen Speicher herunterzuladen.

Diesen wissenschaftlichen Visionen, die für manche schon ziemliche Frankenstein-Anklänge haben, fügte das boulevardeske Internetportal „Huffington Post“ noch ein paar populäre hinzu. So soll es künftig möglich sein, E-Mails direkt mit dem Gehirn zu senden und zu empfangen oder ein bestimmtes Wissenspaket – zum Beispiel die französische Sprache – ins eigene Gedächtnis zu überspielen.

Skeptiker, die an der Realisierbarkeit solcher Visionen zweifeln, verweist Kurzweil darauf, dass er Entwicklungen wie die Allgegenwart des Internets oder autonom fahrende Autos (diese allerdings für das Jahr 2009) vorausgesagt habe. Außerdem habe sich auch das bereits 1965 formulierte Moore’sche Gesetz, wonach sich die Kapazität von Computerchips alle zwei Jahre verdoppelt, bis heute bewahrheitet. Ein exponentielles Wachstum, also die Verdoppelung des Wissens in kurzen Zeitabständen, sei in vielen Forschungsbereichen zu beobachten.

Es gibt in den USA allerdings auch wissenschaftliche Koryphäen wie den Neurobiologen David J. Linden von der Johns Hopkins University, die Kurzweils Prognosen bezweifeln. Viele als kaum lösbar geltende Probleme müssten noch überwunden werden, bis Nanoroboter vom menschlichen Organismus toleriert und auch mit Energie versorgt werden können.

Technikskeptiker fragen sich, ob solche Entwicklungen, die an die „Cyborgs“ genannten Mensch-Maschinen aus Science-Fiction-Horrorfilmen erinnern, überhaupt wünschenswert sind. Begeisterung zeigen dagegen radikale Splittergruppen, die den Übermenschen züchten wollen.

Kurzweil sagt, dass ihm alle Einwände bekannt seien. Ein kontrollierter Fortschritt der Wissenschaft sei aber viel besser, als ein Verdrängen neuer Erkenntnisse in den unkontrollierten Untergrund. Außerdem würde die Menschheit mit dem zu erwartenden Intelligenzschub auch zahlreiche Probleme wie ihre Ernährung und sinnvolle Beschäftigung lösen und überhaupt ein viel erfüllteres Leben haben.

Ein wenig erinnern seine Fantasien an die Romane Jules Vernes, dessen Zukunftsvorstellungen ebenfalls direkt auf der Technik seiner Zeit beruhten. So wird im Roman „Von der Erde zum Mond“ (1865) ein bemanntes Projektil von einer riesigen Kanone zum Erdtrabanten geschossen. Kurzweils Visionen entstammen deutlich dem Zeitalter der Smartphones und ihrer Apps.

Der Erfinder bestreitet gar nicht, dass er auch von der Science-Fiction-Literatur beeinflusst worden ist. Bereits als Kind verschlang er die Tom-Swift-Jr.-Reihe, in der schon in einer frühen Ausgabe ein Bildtelefon vorkommt. Im Kinderzimmer bastelte er ein Roboter-Theater. Mit 17 trat er in der TV-Talente-Show „I’ve Got a Secret“ auf. Er stellte dort einen selbst zusammengebauten Computer vor, der musikalische Kompositionen analysierte und im gleichen Stil neue Melodien komponierte. Er studierte dann am Massachusetts Institute of Technology Computerwissenschaften und Literatur. Noch vor seinem Abschluss am MIT 1970 gründete er seine erste Firma. Seit 1975 ist er mit der Psychologin Sonya Rosenwald Kurzweil verheiratet; sie haben zwei erwachsene Kinder.

Seine Erkenntnisse verbreitet Ray Kurzweil auch international. Auf einer dieser Vortragsreisen kam er 2010 nach Wien, wo er gemeinsam mit dem Apple-Mitgründer Steve Wozniak beim „Future Talk“ der Telekom Austria und im Parlament auftrat. Für die freien Stunden, so verriet Kurzweil später in seinem Internetblog, engagierte er einen Fremdenführer, um nach seinen österreichischen Wurzeln zu suchen. Sein Weg durch das verregnete Wien führte ihn in die Wipplingerstraße 31, wo seine Mutter Hannah und deren Schwester Dorit bei ihren Eltern aufgewachsen waren. Eine weitere für seine Familiengeschichte wichtige Adresse war die Werdertorgasse 12, nahe dem Donaukanal. Dort befand sich von 1863 bis 1938 die „Stern’sche Mädchen-Lehr- und Erziehungsanstalt“, weitum die erste höhere Schule für Mädchen, die in bildungshungrigen Schichten, vor allem auch jüdischen, in der ganzen Monarchie bekannt war.

Die Leitung der Schule wurde 1903 von Kurzweils Urgroßmutter Regine Stern und weiteren Verwandten übernommen. Deren beide Töchter Lilian und Hilda absolvierten selbst die Stern-Schule und machten dann eine Ausbildung als Pianistinnen und Musikpädagoginnen. Kurzweil stellt seine Großmutter Lilian, die später den Arzt und Offizier Erwin Bader heiratete, als Hauptfigur seiner Familiengeschichte heraus: Sie studierte zusätzlich an der Uni Wien Chemie und machte, als eine der ersten Frauen überhaupt, in diesem Fach das Doktorat. Als mehrere mit der Stern-Schule verbundene Verwandte starben, übernahm sie 1919 deren Leitung.

1938 wurde die Schule von den Nazis geschlossen, das Familienvermögen geraubt. Dem Ehepaar Bader gelang es, mit den beiden Töchtern nach England zu flüchten. (Das Doktorat wurde Lilian von den NS-Behörden 1942 „aus rassischen Gründen“ aberkannt.) In Großbritannien brachte die damals bereits 45-Jährige die Familie mit ihrer Arbeit als „Hausmädchen“ durch. Als für ihren Mann Internierungsgefahr bestand, flüchteten sie – über Vermittlung von Freunden ‒ weiter in die USA. In New York arbeitete sie, wie auch die zu ihnen gestoßene Schwester Hilda, als Klavierlehrerin, bis Erwin Bader seine Zulassung als Arzt bekam. Lilian Bader, die 1958 in New York verstarb, hatte davor über ihr Schicksal ein Buch verfasst, das unter dem Titel „Ein Leben ist nicht genug. Memoiren einer Wiener Jüdin“ 2011 im Milena-Verlag auch auf Deutsch erschien.

Mit Stolz erwähnt Kurzweil, dass er gegen Ende von Lilian Baders Erinnerungsbuch erwähnt wird: als kleiner Raymond, der Sohn ihrer Tochter Hannah und deren 1912 in Wien geborenen Mannes Fredric Kurzweil, eines früheren Klavierschülers ihrer Schwester Hilda Stern.

Ray Kurzweil hat es nie überwunden, dass er mit seinem Vater Fredric vor dessen frühem Tod 1970 nur wenig Zeit verbringen konnte, weil dieser als Pianist und Dirigent, als Leiter von Musikcolleges und Organisator von Opernworkshops so stark beschäftigt war. Seither sammelt der Sohn deshalb Gegenstände, die ihn an den Vater erinnern: Briefe und Fotografien, Schallplatten und Filme, sogar die Stromrechnungen, alles in fünfzig Kisten verpackt. Wenn sich die Vorhersagen des Futurologen bewahrheiten, dann sollte es möglich sein, eines Tages einen Avatar seines Vaters zu schaffen, einen virtuellen Doppelgänger, von dem Ray glaubt, dass er für jene, die sich an den echten Fredric Kurzweil erinnern, nicht von diesem zu unterscheiden sein wird.

Bild:  Erhard Stackl, Foto von Christian Fischer

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