„Das Jahrhundert der Frauen“, Vorwort von Anna Goldenberg

„Es sieht ganz so aus, dass der Fluch Gottes an Adam und Eva sich allmählich auflöst.“ Das schreibt der scheidende Wiener Oberrabbiner Arie Folger und bringt damit eine Erkenntnis der aktuellen Ausgabe des „Jüdischen Echos“ auf den Punkt. Im Jahr 2019 richten wir unseren Blick auf Frauen. Hundert Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts in Österreich erkunden wir, wie die Rolle der Frau in einer modernen Gesellschaft, beeinflusst vom Judentum in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen, aussieht.

Der Fluch, der die Geschlechter ungleich gemacht und die Frauen zu schmerzvoller Geburt und die Männer zu harter Arbeit verdammt hat, verliert an Kraft. Immer seltener bestimmt das Geschlecht, was einer Person erlaubt ist oder was sie tun soll. Das zeigen etwa die Beiträge von Tessa Szyszkowitz, Barbara Tóth und Helene Maimann, die über Frauen in der Politik, einer immer noch männerdominierten Domäne, schreiben. Alexia Weiss porträtiert Therese Schlesinger, eine von acht Frauen, die vor hundert Jahren in das österreichische Parlament einzogen.

Jahrhundertelang hat der Fluch dafür gesorgt, dass nur die eine Hälfte der Geschichte gesehen und überliefert wurde. Was Frauen taten und wie sie es taten, wurde oft nicht übermittelt. Die Geschichtsbücher schrieben schließlich Männer. Umso notwendiger ist der auf die Zeitgeschichte ausgerichtete Schwerpunkt dieser Ausgabe. Gleich mehrere Beiträge widmen sich Widerstandskämpferinnen in der NS-Zeit. Olga Kronsteiner hat sich vergessener weiblicher Kunstschaffender, die vor dem Holocaust in Österreich wirkten, angenommen.

Und um die Fehler unserer Vorfahren nicht zu wiederholen, haben wir einen Blick aus Frauenperspektive auf aktuelle Fragen geworfen. Seit der sogenannten Flüchtlingskrise sind vier Jahre ins Land gezogen, doch Flucht bleibt ein aktuelles Thema. Wie geht es jenen jüdischen Wiener Frauen, die damals die Hilfsorganisation Shalom Alaikum gegründet haben, mit ihren Schützlingen heute? Was erzählt die iranische Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, die nun seit zehn Jahren im Exil lebt? Und wodurch unterscheiden sich weibliche von männlichen Flüchtlingen?

Frauen haben so viele Freiheiten wie selten zuvor in der Geschichte der Menschheit, doch der Kampf, um diese Freiheiten zu bewahren, ist noch längst nicht ausgefochten. Der Fluch mag sich allmählich auflösen, doch wie die letzten Meter zurückgelegt werden sollen, darüber herrscht Uneinigkeit. „Die realen Sorgen der Frauen und die ideologischen Anliegen der Feministinnen haben sich weit voneinander entfernt“, schreibt Trautl Brandstaller. Sie argumentiert gegen gendergerechte Sprache, während Ruth Wodak sprachwissenschaftliche Argumente dafür liefert. Susanne Scholl und Julya Rabinowich sehen in ihren Beiträgen wichtige frauenpolitische Errungenschaften sogar in Gefahr. Die unterschiedlichen Analysen zeigen: Den einen Feminismus, der den Fluch endgültig beseitigen könnte, gibt es nicht.

Weniger Debatten über die Rolle der Frau gibt es in religiösen Gemeinschaften. Hier sind die Regeln festgesetzt. Für manche bietet das ausreichend Freiraum, für andere nicht. Frauke Steffens’ Porträt der Richterin Ruchie Freier sieht den ultraorthodoxen Lebensstil in einem positives Licht, während Frimet Goldberger eindringlich beschreibt, wie sie der engen chassidischen Gemeinschaft, in der sie aufwuchs, entkommen ist.

Logo FacebookLogo Twitter