Das bewegte Leben der Louise Fleck
Von Uli Jürgens

Österreichs Filmpionierin und erste Regisseurin Louise Kolm-Fleck ließ sich nicht einmal im Exil in Schanghai in ihrem Schaffensdrang bremsen – solange man sie ließ.
Schanghai, 1. September 1940. Louise Fleck sitzt an ihrem Schreibtisch im Appartement 50, Bubbling Well Road 11. Vor einem halben Jahr ist sie mit ihrem jüdischen Mann Jakob, der sich in Schanghai Jack nennt, vor den Nationalsozialisten aus Wien geflohen. Ende Jänner bestiegen die beiden in Genua den Dampfer Conte Biancamano und erreichten nach mehreren Wochen die Metropole Ostasiens. Louise – Österreichs erste Filmregisseurin – ist 67 Jahre alt. Nun antwortet sie auf einen Brief ihrer Nichte Elli aus der Familie ihres verstorbenen ersten Mannes Anton Kolm.
Meine liebste Elli! Du kannst Dir wohl nicht denken, welche Freude wir haben, wenn ein Brief von Dir kommt. Dein herrlicher Wiener Humor ist bereits in Shanghai (7 Millionen Einwohner) durch unsere Verbreitung bekannt und alles wartet schon ungeduldig auf den nächsten Brief von Dir und Du wirst es kaum glauben, wenn ich Dir verrate, dass jeder Brief hier in der Zeitung veröffentlicht wird. Demnächst wird auch ein Foto von Dir in der chinesischen Zeitung erscheinen unter dem Titel „Wiener Humor“.
Kurz hält Louise inne. Von draußen dringt Straßenlärm herein. Händler, Rikschafahrer, fein gekleidete Damen und Herren, Bettler – die Stadt ist bunt, laut und überfüllt. Doch sie war für viele Flüchtlinge die allerletzte Möglichkeit, dem NS-Terror zu entkommen. Und wer ist nicht aller da! Die Sängerin Rosl Albach-Gerstl, die Chansonnière Lilly Flohr, der Pianist Gino Smart, der Schauspieler Fritz Heller, der Karikaturist Friedrich Schiff. Auch ihren ehemaligen Aufnahmeleiter Arthur Gottlein treffen Louise und Jack Fleck in Schanghai wieder. Man trinkt im White Horse (Zum Weißen Rössl) Kaffee, diskutiert im Corsogarten, Splendid oder Café Louis die jüngsten Nachrichten aus der alten Welt, lauscht beim Würsteltenor den wehmütigen Wienerliedern. An diesem Septembernachmittag trägt Louise ein leichtes Leinenkleid, die Fenster sind geöffnet.
Uns, liebe Elli, geht es gottlob sehr gut, nur die Hitze ist furchtbar. 45 bis 48 Grad C im Schatten und die Nächte sind auch nicht kühler. Man muss 4 bis 5 mal ein kaltes Wannenbad nehmen und muss ich dazu bemerken, dass das kalte Wasser 30 Grad C hat, und dass man schweißtriefend aus dem sogenannten erfrischenden Bad herauskommt. Man fühlt sich erleichtert, so wie wenn man 3 Aspirintabletten und 2 Tassen Lindenblütentee getrunken hätte. Diese Hitze soll noch bis Mitte September dauern, dann soll ein herrlicher Herbst kommen, der bis Ende Dezember anhält. Wie wir uns auf diese Erholung freuen, kannst Du Dir, meine liebe Elli, denken.
Am Tisch gegenüber sitzt Jack und arbeitet konzentriert an einem Drehbuch. Kaum angekommen, war den Exilanten eine Nachricht des chinesischen Regisseurs Fei-Mu überbracht worden, er habe gehört, dass zwei bekannte Filmregisseure aus Europa eingetroffen seien, sie sollten ihn doch in seinem Atelier, den Lianhua-Studios, besuchen. Mehrere Treffen später vereinbarten Louise und Jack mit Fei-Mu eine spannende Zusammenarbeit, die gemeinsame Regie eines chinesischen Kinofilms. Der Film, in dem es um eine Dreiecksbeziehung geht, sollte viele typisch europäische Szenen und Einstellungen enthalten, ein Tanzlokal kommt vor, Brandy wird getrunken, man sieht einen Kalender in englischer Sprache.
Wir arbeiten sehr fleißig, nur hat sich der Beginn unseres Filmes ein wenig verschoben, da im Atelier auf unsere Veranlassung Veränderungen vorgenommen werden müssen, die für die Tonaufnahme von Wichtigkeit sind. Dadurch kommen wir in eine etwas kühlere Zeit ins Atelier, was uns sehr erwünscht ist.

Die österreichische Filmpionierin Louise Fleck 1947 am Hafen von Genua
© Privates Archiv
Louise reist in Gedanken zurück nach Wien. Dort, im Dachatelier des Hauses Museumstraße 5, gleich hinter dem Volkstheater, schrieben die Pioniere Anton und Louise Kolm gemeinsam mit Jakob Fleck Filmgeschichte. Dort entstanden um 1910 erste Stummfilme, dort führte Louise erstmals Regie. Die im Jahr 1873 als Tochter des Kunstfeuerwerkers und Panoptikumbesitzers Louis Veltée geborene Louise konnte sich dem Spiel von Licht und Schatten niemals entziehen. Ein heißer Windstoß holt die kleine Frau mit den schelmischen Augen zurück in die Gegenwart.

Louise und Jakob Fleck mit dem Tenor Hubert Marischka und dem Komponisten Franz Léhar
© Privates Archiv
Die einzige Erholungsstätte, die wir hier haben, ist das Kino, die alle herrlich und riesig groß sind und alle Kühlanlagen haben, so dass ein Temperaturunterschied von 10 bis 20 Grad C darinnen ist. Man muss sich immer eine Umhüllung mitnehmen, um sich langsam abzukühlen, dann hat man zwei Stunden eine herrliche Erholung. Desto schrecklicher, wenn man das Kino verlässt, man möchte am liebsten Tag und Nacht darinnen bleiben.

Louise und Jakob Fleck 1941 im Exil am Hafen von Schanghai
Ach, das Kino! Ihr ganzes Leben hat Louise der Filmproduktion gewidmet. Anton, ihr erster Mann, kümmerte sich ums Finanzielle, mit Jakob Fleck wurde sie bald als Regiepaar bekannt. Gedreht wurden Komödien, Sozialdramen, Literaturverfilmungen. Nach Antons Tod heirateten Louise und Jakob. Von Wien ging es nach Berlin, wo mit Produktionsfirmen wie Hegewald und UFA zusammengearbeitet wurde. Vom Stummfilm zum Tonfilm. 1933, nach der NS-Machtübernahme, zogen sich die Flecks wieder nach Österreich zurück. Besonders angetan haben es Louise die Stücke Ludwig Anzengrubers: „Der Pfarrer von Kirchfeld“ wurde dreimal verfilmt, als Stummfilm 1914 und 1926, mit Ton im Jahr 1937, es war der letzte unabhängig in Österreich produzierte Kinofilm vor dem sogenannten Anschluss an das Deutsche Reich.

Louise fotografiert von ihrem ersten Mann Anton Kolm
©PrivatesArchiv
Jüdische Künstlerinnen und Künstler wurden ausgegrenzt, vertrieben und verfolgt. Auch Jakob Fleck wurde nach Dachau und später nach Buchenwald deportiert. Seine Frau schaffte es, ihn freizukaufen – allerdings nur unter der Voraussetzung, das Land zu verlassen. Louise lässt den Blick aus dem Fenster schweifen.
Wir wohnen jetzt in einem sehr schönen Gartenhaus, haben ein sehr hübsches Zimmer mit voller Verpflegung, interessant ist nur, dass ein chinesischer Koch kocht und alle Wiener und ungarischen Spezialitäten uns vorsetzt, sogar meine geliebten Vanillekipferl sind auf seinem Repertoire, dazu spielt das Radio echte Wiener Musik, so dass man oft die riesige Entfernung ganz vergisst. Beiliegend zwei Bildchen von uns, im Garten aufgenommen.
Der Film „Kinder der Welt“ feiert schließlich im Schanghaier Jindu-Theater eine glanzvolle Premiere, von der Kritik wird er recht wohlwollend aufgenommen, er wird jedoch die einzige Zusammenarbeit zwischen chinesischen und ausländischen Filmkünstlern vor der Gründung der Volksrepublik China bleiben.
Das Papier geht zu Ende, daher will ich Dich nur noch bitten, gleich nach Erhalt dieses, uns auf obgenannter Adresse zu schreiben. Viele herzliche Grüße und sei Du innigst umarmt und geküsst von Deinen Dich liebenden Tante Louise & Jack
Das angenehme Leben in Schanghai währt nur kurz. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour beginnt am 8. Dezember 1941 der Pazifik-Krieg. Die Verhältnisse in Schanghai verschlechtern sich dramatisch, die Emigranten werden in einem abgeschlossenen Stadtteil interniert. Identitätskarten mit gelben Streifen müssen an den Posten vorgewiesen werden, die Bewegungsfreiheit der Bewohnerinnen und Bewohner ist extrem eingeschränkt. Hunger, Arbeitslosigkeit, Elend. „Was wir durchgemacht haben, können Worte kaum schildern“, wird Louise Fleck in einem späteren Brief schreiben.
Nach Kriegsende wollen die beiden betagten Regisseure so schnell wie möglich nach Österreich zurück, wollen weiterarbeiten, dort anknüpfen, wo sie 1938 gezwungen waren aufzuhören. 1947 besteigen sie am Schanghaier Hafen erneut einen Passagierdampfer, diesmal geht es zurück nach Europa. Ein Comeback ist ihnen nicht vergönnt. Louise stirbt im März 1950, ihr Mann Jakob folgt ihr drei Jahre später.
Infos: Der zitierte Brief Louises an ihre Nichte Elli wird im Filmarchiv-Austria im Nachlass von Louises Sohn Walter Kolm-Veltée aufbewahrt und ist eines der wenigen Dokumente, die aus der Zeit des Exils erhalten geblieben sind.
Für das Wiener Filmfestival Viennale 2019 (24. Oktober bis 6. November 2019) wurde eine Retrospektive des Werkes Louise Flecks erarbeitet.
Lesetipp: Uli Jürgens, Louise, Licht und Schatten – Die Filmpionierin Louise Kolm-Fleck. Mandelbaum Verlag, 2019
Foto Uli Jürgens © Gerald Gottlieb