Stille Heldinnen und Helden

Von Brigitte Ungar-Klein

Recherchen über Mut und Menschlichkeit unterm Hakenkreuz ergaben, dass im Wien der NS-Zeit mehr als tausend Jüdinnen und Juden im Verborgenen überleben konnten.

Elfriede, Gerti, Elisabeth, Kurt – sie waren Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene, als das menschenverachtende und mörderische NS-Regime in Österreich, das nun die „Ostmark“ war, die Macht ergriff. Sie waren jüdischer Herkunft und wurden mit dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze in Österreich am 20. Mai 1938 zu Menschen zweiter Klasse, denen Stück für Stück der Lebensraum eingeschränkt und bald auch die Lebensberechtigung abgesprochen wurde.

Der sogenannte „Anschluss“ Österreichs im März 1938 an das nationalsozialistische Deutsche Reich bedeutete eine Zäsur für die etwa 200.000 Jüdinnen und Juden Österreichs. Vom ersten Tag an begannen Verfolgung und Vertreibung: Der Mob, der Juden zwang, Straßen zu waschen, tobte, Juden wurden aus ihren Wohnungen und Geschäften vertrieben, Schüler durften bald nicht mehr in ihre Schulen gehen. Wer eine Möglichkeit zur Flucht hatte, nützte diese – manche verfielen aber auch dem Irrglauben, dass es wohl nicht so dramatisch werden würde, und fügten sich zunächst der Situation.

In den unterschiedlichen NS-Medien – Zeitungen, Filmen – wurde die „Judenfrage“ thematisiert, Jüdinnen und Juden dämonisiert, als minderwertig und böse, als Ausbeuter mit Hang zum Kriminellen dargestellt. Die „deutschen“ Reichsbürger wurden auf diese Weise systematisch negativ beeinflusst und so die Maßnahmen, die letztlich in der „Endlösung“ mündeten, als begrüßenswert und notwendig vorbereitet. Nicht alle – allerdings viel zu wenige ‒ ließen sich von der Propaganda blenden und beeinflussen. Als entschiedene Gegner des Nationalsozialismus oder aus rein menschlichen Gründen wurden sie zu „Gerechten“, die sich in unmittelbare Lebensgefahr begaben, Zivilcourage bewiesen und den Bedrohten, den Verfolgten, den Flüchtenden zur Seite standen, sie betreuten, ihnen Unterkunft gewährten, sie mit Lebensmitteln, Geld, Kleidung usw. unterstützten. Das Ehepaar Kurt und Ella Lingens hatte viele jüdische Bekannte, „wir haben uns nicht verbieten lassen, mit Juden zusammenzukommen“, und „so kam dann die ,Reichskristallnacht‘. [Ein Freund] ist mit einem Pyjama und einem Zahnbürschtl zu uns gekommen. ‚Kann ich bei euch übernachten?‘ Weil ihm sofort klar war, was passiert. Wir haben gesagt: ‚Ja, selbstverständlich‘, und da ist er bei uns geblieben und hat dann circa drei Wochen bei uns gewohnt. /…/ Es sind dann aber auch noch andere zu uns gekommen, wir waren ja eine ‚jugoslawische‘ Wohnung, es war eine sehr große Wohnung, es kamen aber dann so viele, die Wohnung war so voll, dass mein Mann und ich in ein Hotel gezogen sind.“ 1 Kurt und Ella Lingens versuchten auf vielfältige Weise zu helfen, als sie einigen Juden zum illegalen Grenzübertritt nach Ungarn verhelfen wollten, gingen sie in die Falle eines Spitzels der Gestapo und wurden verhaftet. Dr. Ella Lingens kam in das Konzentrationslager Auschwitz und musste unter dem berüchtigten Lagerarzt Dr. Josef Mengele arbeiten, ihr Gatte Dr. Kurt Lingens wurde einer Strafkompanie zugeteilt, jedoch bald schwer verwundet, womit sein Kriegseinsatz beendet war.2


Die Weißnäherin Josefine Praysnar schützte als Pflegemutter ein jüdisches Kind, musste öfter die Wohnung wechseln, der Mann ließ sich scheiden
© Archiv

Mit Kriegsbeginn gab es kaum mehr Möglichkeiten, in ein sicheres Land zu gelangen, sogenannte „Umsiedlungen“, wie in verharmlosender Weise die Deportationen in Ghettos und Konzentrationslager genannt wurden, erzeugten Angst und Unruhe, immer mehr Menschen suchten durch Untertauchen diesen „Umsiedlungen“ zu entgehen – sie wurden zu U-Booten, sie lebten im Verborgenen, sie hatten illegale, manipulierte Papiere, sie wurden zu „Schattenexistenzen“.3 Nicht alle dieser U-Boote erlebten das Kriegsende, etliche wurden entdeckt und Opfer der Schoah. Etwas mehr als eintausend der im Verborgenen Lebenden tauchten mit Mai 1945 wieder auf – nur wenige konnten an das Leben davor übergangslos anschließen.4

Das Leben im Verborgenen war facettenreich, die wenigsten U-Boote lebten tatsächlich in einem Versteck wie Anne Frank, viele mussten mehrmals das Quartier wechseln oder suchten in menschenunwürdigen Behausungen, wie zum Beispiel in Grüften auf Friedhöfen, Zuflucht, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden. Ohne behördliche Registrierung erhielten sie keine Bezugsmarken – weder für Lebensmittel noch für Kleidung oder Schuhe – und sie waren auf die Hilfe anderer angewiesen. Wer waren die Helferinnen und Helfer? Was bewog sie, den Mut, die Zivilcourage aufzubringen und auf der Seite der Verfolgten zu stehen, mit dem Wissen, sich damit selbst in höchste Gefahr zu bringen? Unterschiedlichste Beweggründe waren für Hilfestellungen ausschlaggebend, zumeist standen aber Menschlichkeit und die Gegnerschaft zur NS-Diktatur im Vordergrund.


Gerettetes Kind Elisabeth Wessely: Die Pflegemutter „war für mich alles, ich wär ja gar nicht mehr, bestimmt, ich wär ja in ein Lager gekommen“

War es für einzelne Hilfesuchende schon nicht einfach, entsprechende Hilfe zu bekommen, hatten es Familien, besonders mit Kindern, noch viel schwerer. Kinder und Jugendliche waren zumeist gemeinsam mit wenigstens einem Elternteil untergebracht, junge Erwachsene oftmals auf sich allein gestellt.5 

Mit der Aufnahme eines Kindes durch eine Pflegemutter oder Pflegefamilie hatten diese eine besondere Verpflichtung übernommen. Nach dem „Anschluss“ umso mehr, wenn es sich um so genannte „nichtarische“ Kinder handelte. Wie leicht wäre es doch gewesen, dieser Verpflichtung zu entkommen, das jüdische Kind hätte bei den Behörden einfach abgegeben werden können! Es gab aber die wahren Heldinnen, die den Kampf gegen die Unmenschlichkeit aufnahmen und ihre Pflegekinder mit der Kraft einer Löwin verteidigten und beschützten.

Als besonders aufopfernd beschreibt Elisabeth Wessely ihre nichtjüdische Pflegemutter, Josefine Praysnar. Die Frau war von Beruf Weißnäherin, sie nähte hauptsächlich Herrenhemden: „Sie saß täglich bis tief in die Nacht hinein an ihrer Nähmaschine und hat gearbeitet, um das nötige Geld für den Lebensunterhalt für uns beide zu verdienen. Die Mutter war eine hochanständige, feine, gute Frau, die sehr viel auf sich genommen hat, denn sie musste zwei- oder dreimal ausziehen, die Wohnung wechseln, als man erfahren hat, dass sie ein jüdisches Kind beherbergt. So etwas sickert ja komischerweise immer durch, sie hat auch mit ihrem Mann Schwierigkeiten gehabt, der mit der ganzen Sache nie sehr einverstanden war. Der Ehemann zog schließlich aus, ließ sich scheiden. Die Wohnungen waren [klein] – Zimmer, Küche, Bassena auf dem Gang. Manchmal noch ärger. Zeitweise waren wir sogar in Kellern versteckt – wenn es ganz arg geworden ist, war sie mit mir als U-Boot. Sie war immer mit mir. Diese Frau war für mich alles, für mich ist sie die Frau, die etwas geleistet hat, ich wär ja gar nicht mehr, bestimmt, ich wär ja in ein Lager weggekommen.“ Auch nach der Befreiung blieb Elisabeth bei der Pflegemutter, die sich weiterhin um das Mädchen kümmerte. „Sie stand immer an meiner Seite und behandelte mich wie ein eigenes Kind.“ 7

Der 1924 geborene Kurt Martinetz wurde im Alter von zweieinhalb Jahren von der Gemeinde Wien Maria Potesil zur Pflege übergeben. Maria Potesil war Witwe, Mutter zweier Kinder. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1938 wurden für den Jungen, der jüdischer Herkunft war, die für die jüdische Bevölkerung diskriminierenden Bestimmungen schlagend, so durfte er zum Beispiel nicht mehr zum Unterricht in die Schule gehen. Als die Gemeinde Wien die Vormundschaft für den Pflegesohn ablegte, übernahm Maria Potesil die Verantwortung, erhielt somit aber kein Pflegegeld mehr vom Jugendamt. Sie versuchte eine Adoption durchzusetzen, wofür sie ihre tschechische Staatsbürgerschaft zurücklegte und die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, auch versuchte sie alles, um Kurt als „Mischling 1. Grades“ – was eine gewisse Besserstellung und geringere Gefahr bedeutet hätte – einstufen zu lassen, allerdings ohne Erfolg. Sie zog mit ihrem Pflegesohn sogar in ein „Judenhaus“ im zweiten Wiener Bezirk und war zahllosen Anfeindungen ihrer Nachbarinnen und Nachbarn ausgesetzt. Im Herbst 1942 wurde Kurt des Nachts aus der Wohnung abgeholt, zur Sammelstelle in die Kleine Sperlgasse gebracht und sollte deportiert werden. Maria Potesil konnte dies verhindern, schaffte es, ihn freizubekommen und bis Kriegsende zu schützen.8 „Nur meiner Pflegemutter kann ichs verdanken, dass ich heute noch am Leben bin. Meine Pfl.Mutter [sic] setzte alles daran, scheute nichts und es gelang ihr, mich vor der sicheren Vergasung zu retten.“ 9 Nach 1945 erwiesen sich die Behörden der neu entstandenen Zweiten Republik keineswegs hilfreich und offen für die Schwierigkeiten der Betroffenen. Durch den Wechsel der Staatsbürgerschaft hatte Maria Potesil den Anspruch auf ihre Witwenpension verloren, und auch die Forderung um Nachzahlung des während der NS-Zeit nicht geleisteten Pflegegeldes wurde abgewiesen.

Die 1933 geborene Gerti lebte bei ihren „arischen“ Verwandten in Wien, da es ihren Eltern, die Mutter war bei der Eheschließung zum Judentum übergetreten, gelungen war, eine Passage nach dem damaligen Palästina zu bekommen, allerdings ohne ihre kleine Tochter mitnehmen zu können. Die Familie bemühte sich nun, unter der Behauptung, der eingetragene Vater wäre gar nicht der richtige, eigentlich wäre ein Däne der Vater, eine Einstufung als „Mischling“ zu erreichen.10 Dazu wurde das kleine Mädchen einer rassenbiologischen Untersuchung unterzogen, die sie noch Jahrzehnte später schaudern lässt. „Sie [gemeint sind die Personen, die die Untersuchung durchgeführt haben] haben das aber nie geglaubt, weil die gesagt haben, nach meiner Rasse nach kann ich nur von einem Juden abstammen. Die haben Haare gemessen, und haben gesagt, solche Haare, wie ich [sie habe], haben sie überhaupt nicht auf der Liste, das ist überhaupt keiner Rasse zuzuordnen. Aber zu Dänen gehöre ich auf jeden Fall nicht.“ 11 Auch wenn es immer wieder Schwierigkeiten gab, innerhalb der Familie konnte das Mädchen überleben. „Die Familie meiner Mutter hat eisern zusammengehalten und geholfen. Es waren viele Kleinigkeiten – eigentlich „Großigkeiten“. 12

Elfriede Gerstl, die mit ihrer Mutter an mehreren Adressen in Wien versteckt überleben konnte, wollte nicht immer an diese Zeit erinnert werden, dennoch war ihr Leben davon geprägt, und in etlichen kleinen Dichtungen, in kleinen lyrischen Arbeiten, wie im Gedicht „Mein Lichtstrahl“, kommen die Gefühle, Empfindungen, die sie als kleines Mädchen hatte, deutlich zum Ausdruck.

„Als Kind habe ich einmal einen Lichtstrahl gekannt; im Sommer 1942 lernte ich ihn kennen.

Es war ein sehr freundlicher Lichtstrahl, wenn es nicht gerade regnete, schien er durch einen Riß in der Verdunklungsrolleau in mein Zimmer. Er schnitt einen lichten Flimmerstreifen in den dämmrigen Raum, so daß man für zehn bis zwölf Minuten lesen konnte.

Wo er auf den Fußboden auffiel zeichnete er goldene Ringe und Netze, die sich langsam auflösten und verschwanden. Ich hatte mehrere Monate Gelegenheit, sein Kommen und Gehen zu beobachten. Meist lag ich auf meinem Bett. Anfangs hatte ich in einem Winkel des Zimmers gesessen und mich gelangweilt; es war zu dunkel um irgend etwas zu tun und ich durfte mich auch nur lautlos bewegen, denn man sollte unsere Wohnung für leer halten. /…/“ 13

1 Interview DDr. Ella Lingens mit der Verfasserin vom 13. 11. 1988, PUK.

2 Zu DDr. Ella Lingens siehe u.a.: Ilse Korotin (Hg.), „Die Zivilisation ist nur eine ganz dünne Decke …“ Ella Lingens (1908 – 2002), Ärztin – Widerstandskämpferin – Zeugin der Anklage. Praesens, Wien 2011.

3 Brigitte Ungar-Klein, Schattenexistenz. Jüdische U-Boote in Wien 1938‒1945. Picus, Wien 2019.

4 Die Zahlen beziehen sich auf Personen jüdischer Herkunft, die vorwiegend in Wien versteckt waren.

5 Forschungen ergaben etwa sechzig Kinder bis zum 14. Lebensjahr und etwa hundert Jugendliche bzw. junge Erwachsene, die als U-Boote leben mussten.

6 Interview mit Elisabeth Wessely vom 13.8.1992 mit der Verfasserin. PUK. 1937 geboren, kam das Mädchen schon bald nach der Geburt zu der Pflegefamilie. Erst lange nach Kriegsende, schon als Erwachsene, konnte sie nähere Informationen zu ihren leiblichen Eltern in Erfahrung bringen.

7 Gespräch mit Elisabeth Wessely vom 28.6.2019 mit der Verfasserin.

8 Maria Potesil wurde für ihre aufopfernde Hilfe für Kurt Martinetz 1978 als „Gerechte“ ausgezeichnet. Yad Vashem, Dossier 1400. Im 22. Wiener Bezirk, im Stadtteil Seestadt Aspern, wurde eine Straße nach Maria Potesil benannt. www.aspern-seestadt.at (abgerufen am 23.6.2019).

9 WStLA. M-Abt.12. GZl. 20273/E.

10 Die Mutter von Gertrude G. hatte in den 1920er-Jahren für einige Zeit in Dänemark gelebt und aus dieser Zeit einige Dokumente, die nun für das Verfahren die Geschichte untermauern sollten.

11 Interview mit Gertrude G. vom 15.3.1989 mit der Verfasserin. PUK.

12 Ebd.

13 Elfriede Gerstl, 1932 – 2009, Lyrikerin, Schriftstellerin. Elfriede Gerstl, Mein Lichtstrahl. In: Jüdisches Echo, Vol. 4, Nr.2/3, 1955, S. 8. Siehe dazu auch: Raphaela Kitzmantel, „Ich möchte nicht als lebend gebliebene Anne Frank gesehen werden“, Elfriede Gerstls jüdische Identität im Licht des Überlebens im Versteck. In: Christa Gürtler/Martin Wedl (Hg.), Elfriede Gerstl, „wer ist denn schon zu hause bei sich“. Profile, Magazin des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012

Die Autorin hat zum Thema dieses für das „Jüdische Echo“ verfassten Beitrags soeben das folgende Buch herausgebracht:Brigitte Ungar-Klein, Schattenexistenz – Jüdische U-Boote in Wien 1938–1945. Picus Verlag, 2019

Foto Brigitte Ungar-Klein © Picus Verlag

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