Unterwegs in der Stadt der Städte von Anton Pelinka

Anton Pelinka  – Foto: privat

 

 

Wer die Komplexität menschlicher Gesellschaft an einem Ort studieren will, kann dies besonders gut in Jerusalem tun. Um das Spannende und die Spannungen zu verstehen, die in dieser Metropole liegen, ist es wohl notwendig, einige Zeit in Jerusalem zu leben.

Während meiner Gastprofessuren am Center for European Studies der Hebrew University – jeweils zwei Wochen in den Jahren 2011, 2012 und 2013 – war es mir möglich, Jerusalem etwas näher kennenzulernen. Vom Gästehaus der Universität am Mount Scopus ging ich fast täglich in Richtung Altstadt – vorbei am britischen Soldatenfriedhof in Richtung des American Colony Hotels und der (heute im Wesentlichen von arabischen Christen geprägten) anglikanischen Kathedrale, durch den primär arabisch und moslemisch geprägten Teil der Stadt. Und dann, die Altstadt: Zwischen Damaskustor und Jaffator kann man die Welt erfahren – in einer Vielfalt, die aus dem Gestern kommt, die aber auch ein mögliches Morgen andeutet: Priester der äthiopischen und Nonnen der russischen Kirche gehen aneinander vorbei, die armenische und die lutherische Kirche liegen auf dem Weg, und – wichtiger Teil dieser multikulturellen Stadt – das Judentum und die Klagemauer („Western Wall“) bestimmen den Südosten der Altstadt. Der Weg auf den Tempelberg mit seinen beiden großartigen Moscheen – unter der Kontrolle der arabisch-moslemischen Selbstverwaltung – ist nicht leicht zugänglich, er ist zu bestimmten Zeiten des Tages den Moslems vorbehalten.

Eine Beobachtung, die das Gestern mit einem möglichen, wahrscheinlichen Morgen verbindet: Menschen dunkler Hautfarbe, die in der Altstadt sichtbar sind, können moslemische Bewohner Jerusalems sein – Nachfahren der afrikanischen Sklaven, die in den Jahrhunderten muslimischer Dominanz nach Palästina gebracht worden waren; oder aber israelische Soldaten, die zweite Generation äthiopischer Juden, verantwortlich für die Sicherheit in der Stadt; oder aber Mönche der äthiopischen Kirche.

Dass die Altstadt traditionell in Viertel geteilt ist – das jüdische und das moslemische, das christliche und das armenische –, signalisiert zwar nicht mehr Segregation, diese Teilung ist aber doch spürbar. Am stärksten im jüdischen Viertel, in dem zwischen 1948 und 1967 keine Juden lebten: In der Zeit, in der Ostjerusalem unter jordanischer Herrschaft stand, wurde die Altstadt „judenfrei“ gemacht. 1967, das Jahr des Sieges Israels über die Allianz dreier arabischer Staat, war auch das Jahr der Rückkehr der Juden in das alte Jerusalem. Die baulichen Veränderungen in der Altstadt betreffen vor allem das jüdische Viertel. Es wurde aus- und umgebaut, ohne den historischen Charakter zu zerstören.

Vom Jaffator kommt man in den Bereich der Stadt, der in den Jahren der Teilung Westjerusalem hieß. Links von der weiter in den Westen führenden Jaffa Road kommt man zum King David Hotel, einstmals Sitz der britischen Mandatsmacht – und im Vorfeld des Abzugs der Briten und der israelischen Unabhängigkeitserklärung von jüdisch-nationalistischen Untergrundkämpfern durch einen Bombenanschlag partiell zerstört. Gegenüber steht das im pseudo-orientalischen Stil errichtete Gebäude der YMCA (Young Men’s Christian Association, des evangelikal-protestantisch orientierten Christlichen Vereins Junger Menschen, CVJM – Anm.), Zeugnis protestantischer Missionierungsversuche am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Geht man die Jaffa Road weiter in Richtung Westen, kommt man zu der nach dem Ende der Sowjetunion wieder mit russischem Leben erfüllten russischen Kathedrale vorbei, errichtet von der Regierung des letzten Zaren – eine Kirche mit einer Infrastruktur für russische Pilger („Russian Compound“). Diese russische (Vor-)Geschichte macht die über religiöse Aktivität manifestierten geopolitischen Ansprüche deutlich. Rechts von der Jaffa Road ist auch das Zentrum der jüdischen Orthodoxie – im Stadtteil Mea Shearim dominieren im Straßenbild ultraorthodoxe Jüdinnen und Juden. Die wiederum untereinander verschiedenen religiösen Lebensformen der Orthodoxen sind eine wichtige Facette des faktischen Multikulturalismus der Stadt. Zu diesem gehören unvermeidlich Spannungen – nicht nur zwischen Judentum und Islam, sondern auch zwischen den religiösen Schattierungen des Judentums.

Das Russische, dem man in Jerusalem begegnet, ist erst recht voll von Widersprüchen. Da ist die russische Kirche und da sind die russischen Touristen, die wohl primär an den heiligen Stätten der Christenheit interessiert sind. Aber da sind auch die Jüdinnen und Juden, die – zumeist am Ende des vorigen Jahrhunderts – aus der früheren Sowjetunion nach Israel gekommen sind. Sie sind präsent – kulturell etwa. Im jüdisch-israelischen Alltag hat die russische Sprache das Englische fast als Zweitsprache verdrängt. Und sie sind politisch aktiv – insgesamt eher auf der Seite der israelischen Rechten. Mit „Sozialismus“ wollen diese im israelischen Alltag „Russen“ genannten Israelis offenbar nichts zu tun haben.

Das, was einmal Westjerusalem war, ist das wirtschaftliche und politische Zentrum der Stadt. Hier hat die Knesset ihren Sitz und auch die israelische Regierung, Zeichen des faktischen Hauptstadtcharakters Jerusalem. Am äußersten Westrand der Stadt liegt Yad Vashem, das nicht nur als Museum zum Muster für alle Holocaust-Gedenkstätten wurde. Yad Vashem genießt darüber hinaus auch als Forschungsstätte eine hohe internationale Reputation.

Wer Jerusalem nicht nur besucht, sondern erwandert, wird als selbstverständlich begreifen, dass diese Stadt nicht mehr geteilt werden kann. Die internationale Anerkennung als Hauptstadt ist de facto nur von semantischer Bedeutung, und welche ausländische Botschaft in Tel Aviv und welche in Jerusalem ihren Sitz hat, ist Teil bloß symbolischer und nicht realer Politik. Ein Zurück zu einem geteilten Jerusalem ist nicht möglich – jedenfalls nicht auf friedlichem Weg.

Die Klagemauer – die frühere Westmauer des Plateaus für den zweiten Jerusalemer Tempel ‒ und darüber der Tempelberg mit dem islamischen Felsendom

Foto: info.goisrael.com

 

Das bedeutet nicht, dass das jüdische und das arabische Jerusalem miteinander integriert sind. Es gibt zwei lokale Busunternehmen: Ohne dass dies offen deklariert wäre, bedienen die blauen Busse vor allem Routen im Westteil der Stadt, die grünen jene im Osten. Integriert ist die seit etwa einem Jahrzehnt operierende „Light Railway“, eine kreuzungsfreie Straßenbahn, die den Westen – vorbei am Jaffa- und am Damaskustor – mit dem Osten verbindet. In dieser Straßenbahn kann man bewaffnete Soldatinnen und Soldaten sehen, die zum oder vom Dienst fahren; ultraorthodoxe Jüdinnen und Juden, die aus religiösen Gründen Probleme haben, nebeneinander zu sitzen; und auch Palästinenserinnen, erkennbar an der Kopfbedeckung, die sie ebenso demonstrativ tragen wie orthodoxe jüdische Männer die ihren.

Wenn wirtschaftlich oder politisch einflussreiche Personen des arabischen Jerusalem zusammenkommen, werden sie sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht im King David Hotel verabreden – sondern im American Colony Hotel, das qualitativ den analogen Standard im Ostteil der Stadt bietet. Aber diese nach wir vor erkennbare Neigung zur Trennung im Alltag betrifft nicht nur den jüdisch-arabischen Gegensatz, er betrifft auch andere Konfliktlinien: etwa den zwischen der jüdischen Orthodoxie und dem säkularen Judentum. Dieser Gegensatz bricht auf, wenn es um die Konkretisierung der Sabbatruhe in Mea Shearim geht – oder um die Versuche ultraorthodoxer Organisationen, in öffentlichen Verkehrsmitteln nach Frauen und Männern getrennt Sitzplätze durchzusetzen. Und die Gegensätze zwischen den christlichen Konfessionen, die immer wieder zu (in der Vergangenheit auch physisch ausgetragenen) Auseinandersetzungen um die von den verschiedenen Kirchen gemeinsam verwaltete Grabeskirche in der Altstadt geht, macht eines deutlich: Jerusalem ist zu komplex, als dass man die Stadt bloß zweidimensional sehen könnte.

Jerusalem ist eine pulsierende Metropole. Jerusalem ist aber auch ein gigantisches Freilichtmuseum: Der britische Soldatenfriedhof bringt einen Aspekt europäischer Intervention in Erinnerung – die Gräber der Soldaten aus Neuseeland oder Schottland stehen für 1917 und auch für den Anfang der „Mandatszeit“, aus der die britische Regierung keinen anderen Ausweg erkennen konnte als den raschen Rückzug, der auch als Flucht vor dem sich abzeichnenden (ersten) israelisch-arabischen Krieg zu verstehen ist. Nahe dem „Russian Compound“, nicht weit weg vom Jaffator, kann man die Gefängniszellen besichtigen, Zeichen einer britischen Polizeigewalt, mit der die sich immer mehr überfordert fühlende britische Macht den Guerilla-Aktivitäten von jüdischer und von arabischer Seite Herr zu werden versuchte.

Auf dem Ölberg, dem östlich der Altstadt gegenüberliegenden Berghang, ist der jüdische Friedhof zu finden – auf dem auch Oskar Schindler begraben liegt, wohl der prominenteste Nichtjude auf diesem Friedhof. Nicht weit weg davon befindet sich der nach der deutschen Kaiserin Viktoria Augusta benannte Spitals- und Kirchenkomplex, Zeichen europäischer Begehrlichkeiten – wie der vor den Mauern der Altstadt liegende große Komplex Notre Dame de France, den die französische katholische Kirche etwa um die Zeit der Bauaktivitäten des russischen Zaren und des deutschen Kaisers gebaut hat: Zeichen der Konkurrenz zwischen den europäischen Mächten in den Jahren der Abenddämmerung des Osmanischen Reiches. Und in der Altstadt, hinter dem Jaffator, erinnert eine Tafel, angebracht an einem alten Gebäude, dass hier einmal ein Postamt der k. u. k. Post des alten Österreich war – eine Parallele zu dem von der katholischen Kirche Österreichs betriebenen Hospiz mitten im moslemischen Viertel der Altstadt. Immerhin: Kaiser Franz Joseph führte ja auch den Titel „König von Jerusalem“.

Mea Sharim, das von strenggläubigen Juden bewohnte alte Viertel außerhalb der Altstadt: Wichtige Facette des faktischen Multikulturalismus

Foto: Moshe Milner/Government Press Office

 

Wenn man sich Zeit nimmt – nicht nur für ein touristisches Sightseeing –, dann beginnt man zu verstehen: Alle die einfachen Formeln, die da angeboten werden, müssen nicht falsch sein, aber sie liefern nur Teilwahrheiten. Ja, es stimmt, Jerusalem ist nicht mehr teilbar. Aber ja, es stimmt auch, dass die arabische Minderheit in Jerusalem durchaus nachvollziehbare Probleme hat, die Realität des geeinten Jerusalem nicht als Fremdherrschaft zu empfinden. Aber es stimmt eben auch, dass das 1967 wiedervereinigte Jerusalem die – relativ beste – Wirklichkeit geschaffen hat, in der die verschiedenen Segmente des komplexen gesellschaftlichen Puzzles, genannt Jerusalem, grundsätzlich friedlich und auch in einem grundsätzlich von wechselseitigem Respekt bestimmten Verhältnis koexistieren. Aber ebenso stimmt es auch, dass aus diesem Nebeneinander noch nicht das Miteinander geworden ist, das vorstellbar und wünschbar wäre.

Eine formelle Friedenslösung scheint – ein Vierteljahrhundert nach dem Oslo-Abkommen – weit entfernt. Dass die Stadt nicht geteilt werden kann, darüber sind sich alle israelisch-jüdischen Parteien einig. Ob ein geeintes Jerusalem, Hauptstadt des Staates Israel, auch eine mehr oder weniger bloß symbolische Präsenz eines Staates Palästina zulassen könnte, um dessen Ansprüche zu respektieren – unter der Voraussetzung, dass die reale Hauptstadt Palästinas Rammallah ist –, darüber könnte wohl verhandelt werden; wie auch über die Zugehörigkeit der Teile des Großraumes Jerusalem, die sich seit 1967 entwickelt haben – als ein Ring von Siedlungen, der sicherlich großteils bei Israel bleiben würde.

Doch der denkmögliche, der formale Friede ist für die Menschen in Jerusalem wohl weniger wichtig als der Friede im Alltag. Eine Wiederholung der zweiten Intifada von 2000 und den folgenden Jahren schwebt wie ein Damoklesschwert über der Stadt und rechtfertigt auch die nach wie vor aufwendigen und vor allem sichtbaren Sicherheitsmaßnahmen, zu denen auch die Präsenz des Militärs in allen Teilen der Stadt gehört. Der Status quo ist das relativ Beste, das Jerusalem in seiner Geschichte seit 1917 erfahren hat. Aber dieser – relativ – zufriedenstellende Zustand kann nicht garantiert werden.

Jerusalem ist auch deshalb die Stadt aller Städte, weil die menschliche Geschichte über die Jahrtausende hinweg immer wieder Jerusalem als einen Brennpunkt erfahren hat. Und diese historische Rolle war oft verbunden mit schrecklichen Tragödien: Als Kaiser Titus das von Aufständischen befreite Jerusalem wieder erobert hatte, zerstörte er den Tempel – und vertrieb alle Jüdinnen und Juden in die Diaspora. Als die christlichen Kreuzfahrer ihr Königreich Jerusalem errichteten, ab dem Jahre 1099, hatten sie davor alle Juden und Muslime der Stadt ermordet. Als die Briten zwischen 1917 und 1948 Jerusalem regierten, waren sie, gelähmt von einander widersprechenden Zusagen, nicht in der Lage, eine friedliche Lösung für die Zukunft Palästinas zu sichern. Als nach dem Krieg von 1948 Jerusalem geteilt wurde, vertrieb die jordanische Herrschaft jüdisches Leben aus dem Osten Jerusalems und auch aus dem Westjordanland – und, in teilweiser Analogie, flohen viele (bei weitem nicht alle) Muslime aus dem Staat Israel, zur Flucht nur zu oft durch das veranlasst, was Vertreibung genannt werden muss. Diesen Ballast an historischer Tragik, der freilich auch seine Entsprechung in historischer Größenordnung hat, trägt das Jerusalem von heute. Und alles in allem genommen wird das heutige Jerusalem dieser großen Aufgabe gerecht. Aber eben weil Jerusalem mehr als andere Städte Vielfalt und Widersprüche ausdrückt, ist es der am besten geeignete Ort, um gesellschaftliche Wirklichkeit erfahrbar zu machen.

 

Literatur

Anton Pelinka (2015), Israel: Ausnahme- oder Normalstaat? Wien: Braumüller Verlag.

 

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