Reise ans Ende der Nacht von Helene Maimann
Warum sehr viele Menschen sehr lange in der Sowjetunion das ersehnte Utopia sahen, obwohl sie sich schon in den Dreißigerjahren in ihr Gegenteil verkehrte.
Wenn man die Brücken hinter sich verbrennt,
welch ein prächtiges Feuer!
Dylan Thomas
- Jänner 1937. Josef Wissarionowitsch Stalin, seit zehn Jahren Alleinherrscher der Sowjetunion, seit 1929 offiziell Woschd, also Führer von Staat und Partei, empfängt im Kreml Lion Feuchtwanger, deutscher Schriftsteller, Jude, weltberühmt. Stalin hatte die Utopie der sozialistischen Weltrevolution in eine neue umformuliert: in die vom Sozialismus in einem Land. Die immensen Kosten ‒ Zwangskollektivierung und der Holodomor, die organisierte Hungersnot in der Ukraine, die Millionen Menschen das Leben kostete, der brutale Industrialisierungsschub ‒ brachten Stalin im Westen eine schlechte Presse. Er braucht das Zeugnis eines einflussreichen bürgerlichen Intellektuellen, um dem Ansehensverlust der Sowjetunion entgegenzuwirken.
Die Lubjanka, ehemaliges KGB-Zentrum in Moskau, wo Zehntausende verhört und gefoltert wurden
Foto: Wikimedia Commons
In seinem Roman „Erfolg“ ließ Feuchtwanger den Schriftsteller Jacques Tüverlin Folgendes sagen: „Ein großer Mann, den Sie nicht leiden können, ich übrigens auch nicht, er heißt Karl Marx, meinte: die Philosophen haben die Welt erklärt, es kommt darauf an, sie zu ändern. Ich für meine Person glaube, das einzige Mittel, sie zu ändern, ist, sie zu erklären. Erklärt man sie plausibel, so ändert man sie auf stille Art, durch fortwirkende Vernunft. Sie mit Gewalt zu ändern, versuchen nur diejenigen, die sie nicht plausibel erklären können. Diese lauten Versuche halten nicht vor, ich glaube mehr an die leisen. Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt. Ich glaube an gutbeschriebenes Papier mehr als an Maschinengewehre.“
„Erfolg“ kam 1930 heraus. Noch glaubte Feuchtwanger wie sein Alter Ego Tüverlin an die Durchsetzungskraft der Vernunft. 1937 war er sich dessen nicht mehr sicher. Die Weimarer Republik lag in Trümmern, die Nazis waren drauf und dran, Europa zu unterwerfen, in Österreich herrschte ein autoritärer Ständestaat von Hitlers Gnaden, in Spanien hatten die Falangisten begonnen, die Republik zu zerschlagen. Japan überfiel China. Mao Zedong schrieb in Yanan sein Buch über den Guerillakrieg. Und in Moskau legten altgediente Revolutionäre und hartgesottene Parteiführer umfassende Geständnisse ab, bekannten sich in aller Öffentlichkeit als Konterrevolutionäre, Verschwörer, Saboteure und Feinde der Sowjetmacht. Alles, was in diesem Jahr 1937 geschah, ob in Spanien, Deutschland, Frankreich, in der Sowjetunion oder in China, spielte sich vor dem Horizont eines heraufziehenden weltweiten Krieges ab.
Feuchtwanger stand den Kommunisten keineswegs nahe. Er wies den Machtanspruch zurück, den sie in Frankreich erhoben, wo er seit 1933 im Exil lebte. Vielleicht hatte er auch Jean Renoirs Film „Das Leben gehört uns“ gesehen, ein Auftragswerk der KPF, in dem ihr Generalsekretär Maurice Thorez zu einem Sowjetfrankreich aufrief, was ihm wenig gefallen haben wird. Aber er war wie fast alle Künstler und Intellektuelle dieser Jahre überzeugt, dass in der bevorstehenden Konfrontation mit dem Faschismus die Sowjetunion unterstützt werden musste.
Er ist ein hellwacher, skeptischer Intellektueller, er ist nicht blind. Vor ihm waren bereits Bert Brecht, George Bernard Shaw, Henri Barbusse, Joseph Roth, Walter Benjamin, Ludwig Marcuse und viele andere Schriftsteller dagewesen und hatten sich zumindest wohlwollend geäußert. Nur André Gide nahm sich kein Blatt vor den Mund. Im November 1936 kam sein Bericht „Retour de l’U.R.S.S.“ heraus. Gide, kein Parteigänger, aber seit vielen Jahren Herzenskommunist, war im Juni 1936 voll hochgespannter Erwartungen nach Moskau gefahren und brach nach seiner Rückkehr mit dem kommunistischen Experiment. Trotz strikter Überwachung hatte er genug gesehen. Unfassbare Massenarmut. Korruption. Versklavung der Arbeiter. Eine selbstzufriedene Nomenklatura. Verrat und Denunziation als revolutionäre Tugend. Feuchtwanger, der Gides Buch als Reiselektüre mitnimmt, weiß also, worauf er sich einlässt. Er sieht sehr klar die Gefahr, von Stalin als nützlicher Idiot vor den propagandistischen Karren gespannt zu werden.
„Als ich Stalin sah, berichtete er, war der Prozess gegen die ersten Trotzkistengruppe, gegen Sinowjew und Kamenjew, vorbei, die Angeklagten verurteilt und erschossen worden und gegen die zweiten Trotzkistengruppe, gegen Pjatakow, Radek, Bucharin und Rykow, schwebte ein Verfahren. In der Zwischenzeit also, zwischen den beiden Prozessen, sah ich Stalin.
Das Treffen erweist sich als überraschend offen, sie kommen auf die Trotzkistenprozesse zu sprechen. Der joviale Stalin erzählt von seiner Freundschaft zu Karl Radek, Berufsrevolutionär, Journalist, einer der glänzendsten Figuren der kommunistischen Internationale. Ihr Juden, sagt er listig, habt eine ewig wahre Legende geschaffen, die von Judas.“
Judas also. Juduschka Trotzki, das Jüdlein mit dem Ziegenbart, das die UdSSR an ausländische Generäle verschachert. Sinowjew, Kamenjew, Radek und viele andere jüdische Altbolschewiken, die als „Verkäufer des Volksbluts“ bezeichnet werden. Was weiß Feuchtwanger darüber? Das Gespräch mit Stalin führt jedenfalls zum gewünschten Resultat. Stalin, findet er, muss etwas gegen Trotzki und seine Anhänger unternehmen. Und schreibt fast zärtliche Eloge über die Begegnung mit dem Woschd.
Feuchtwanger fühlt sich wie die meisten Intellektuellen verpflichtet, die Sowjetunion „gegen die Lauheit, die Dummheit, den bösen Willen und die Herzensträgheit“, die er im Westen vorfand, zu verteidigen. Das neue Moskau beeindruckt ihn, die gigantische Anstrengung, eine futuristische Metropole zu errichten, mit Metro, Hochschulen, Krankenhäusern, Kulturzentren, Bibliotheken und einem großzügigen Straßennetz. Ein Modernisierungsprojekt, das die Stadt mit einem Ruck an London, New York, Paris und Berlin heranführen sollte. Er übersieht nicht die krassen Mängel in der Versorgung, die primitiven Behausungen der meisten Sowjetbürger, die wuchernde Bürokratie. Aber der ungestüme Wissensdurst der Jungen, zumindest jener, die man ihn begegnen ließ, ihr Optimismus, einem strahlenden Morgen entgegenzugehen, gefällt ihm. Er verengt seinen Blick. Die sorgfältige Choreografie seiner Reise nimmt er ohne Einspruch hin. Und auch die Inszenierung der Prozesse, die durch Massenkundgebungen und ausschweifende Medienberichte zum Großereignis werden. Aus allen Teilen der Sowjetunion folgte umgehend die Forderung nach der Todesstrafe.
So beließ Feuchtwanger es in Moskau 1937 bei einigen einschränkenden Anmerkungen und zeichnete ein schwärmerisches Bild von einem neuen Utopia. Er warf seine ganze Reputation in diesen Bericht, überging und beschönigte vieles. Zehn Wochen war er in dem Riesenreich unterwegs gewesen. Ende Jänner beobachtete er den zweiten Schauprozess gegen das „sowjetfeindliche trotzkistische Zentrum“ um Radek, Pjatakow und 15 andere Altbolschewiki, um schließlich 13 Todesurteile zu hören, ohne einen einzigen Beweis. Der Prozess, schrieb er, habe seine Bedenken aufgelöst wie sich Salz in Wasser löst. „Wenn das gelogen war oder arrangiert, dann weiß ich nicht, was Wahrheit ist.“ Ein fataler Satz. Dass er tiefe Zweifel hegte, verschwieg er. Übrigens zweifelte auch sonst fast niemand an den pathetisch vorgetragenen Geständnissen. Oder kam auf die Idee, dass sie das Ergebnis monatelanger barbarischer Folterungen waren. Je größer die Farce, je bizarrer die Lüge, umso schwieriger, ihr zu entgegnen.
Moskau 1937 löste im Westen ebenso Entrüstung aus wie es seine Wirkung auf die Zweifler nicht verfehlte. Als Zugabe veröffentlichte Feuchtwanger eine barsche Zurechtweisung von André Gide, den er als Ästheten abkanzelte, der von Realitäten keine Ahnung habe. Ist André Gide unbekannt, dass die Leute hier zu arbeiten haben gleich jenen Juden der Bibel, die ihren zweiten Tempel aufrichteten, in der einen Hand die Maurerkelle, in der anderen das Schwert? Es ist unter diesen Umständen nicht leicht und auch nicht ratsam, die Disziplin zu lockern. Die Führer der Sowjetunion sind klug, dass sie die Zügel nicht schleifen lassen, solange sie nicht die Gefahren gebannt haben, mit denen der Faschismus sie bedroht.
Was immer er später über die Massaker in der Sowjetunion und die späteren Schauprozesse in Prag und Budapest erfuhr, in denen ein Rudolf Slánsky, Generalsekretär der tschechoslowakischen KP, gestand, ein „zionistischer Verräter und Lump“ zu sein wie sein ungarischer Kollege László Rajk, bevor beide und viele andere am Galgen endeten, was immer das Jahr 1956 mit Chruschtschows Geheimrede und dem niedergeschlagenen Ungarnaufstand ans Tageslicht brachte ‒ er hielt bis zu seinem Tod 1958 unbeirrbar an dieser Version fest. Sein öffentliches Bild wurde janusköpfig. Aber er blieb einer der meistgelesenen Autoren der Sowjetunion, und ohne den Aufbau-Verlag der DDR hätte er niemals an seine Vorkriegserfolge anknüpfen und seinen Platz in der Weltliteratur sichern können.
Viele, die ihm nahestanden und ihn im Februar 1937 am Bjelorussischen Bahnhof verabschiedet hatten, wurden umgebracht: darunter Sergej Tretjakow, Futurist, Maler, Dichter, im Juli 1937 als japanischer Spion erschossen. Isaak Babel, 1940 als Trotzkist hingerichtet. Boris Tal, sein Übersetzer, 1937 zum Tod verurteilt. Michail Kolzow, geboren als Michail Friedland, Journalist, Chronist des Spanischen Bürgerkriegs, der ihn bewogen hatte, nach Moskau zu reisen, Ende 1938 erschossen. Dessen Lebensgefährtin Maria Osten, 1941 als Spionin erschossen.
Es ist unwahrscheinlich, dass es jemals wieder ein säkulares Glaubenssystem mit der epischen Kraft und der globalen Ausstrahlung des Kommunismus wird aufnehmen können. Seine Vision, eine klassenlose Gesellschaft ohne Elend der Vielen und Macht der Wenigen, sein universalistischer Anspruch, höchstes Ziel der Menschheit zu sein, faszinierte Millionen. Sie warfen sich mit Herz und Hirn in seine Arme. Der Angelpunkt dieser Faszination war die Sowjetunion. Siebzig Jahre war sie das Symbol dieser Großen Utopie, das Mutterland des Sozialismus, bevor sie jäh und von niemand vorhergesehen zusammenbrach. Alle ideologischen Kämpfe drehten sich um sie. Die ungeheuren Menschenopfer wurden bis weit in das liberale Lager des Westens relativiert. Hatte nicht die Spanische Grippe zwischen 1918 und 1920 mehr Opfer gefordert als der Weltkrieg? Das furchtbare Wort von der Säuberung ging in die Weltsprachen ein, ohne dass sich viele ein Bild davon machten, was es bedeutet.
Wenn ein liberaler Freigeist wie Feuchtwanger angesichts des heraufziehenden Krieges keine andere Alternative sah als die Sowjetmacht oder die Barbarei, dann umso mehr die jungen Aktivisten. Sie kämpften, das war ihre feste Überzeugung, für ein künftiges freies Menschengeschlecht. Sie hielten sich für die Soldaten einer weltweiten Befreiungsarmee, auch wenn das letzte Gefecht, von dem die „Internationale“ kündet, in ferner Zukunft liegen mochte. Ihre Bindung an dieses Ziel war ernst und aufrichtig. Gefühle zählten nicht. Jeder gute Kommunist müsse auch ein guter Tschekist sein, hatte Lenin gesagt. Das Nötige war eben auch entsetzlich. Wie hieß es bei Isaak Babel? „Unsere Kommunistische Partei ist eine eiserne Schar von Kämpfern, die ihr Blut in vorderster Reihe vergießen. Es geht um Sieg oder Tod.“
Leopold Trepper, legendärer Chef der Roten Kapelle, der größten Spionageorganisation gegen das Dritte Reich, fuhr als junger Kommunist im Mai 1934 nach Kasachstan. In Karaganda zeigte man ihm ein Barackenlager für ehemalige Kulaken, deportierte Bauern, die mit ihren Familien im Kohlenbergwerk arbeiteten. Das Lager hatte keine sanitären Anlagen. Tausende waren bereits an Typhus gestorben. Kollateralschäden, ohne Belang. „Gewiss meldete sich mein revolutionäres Gewissen, notierte Trepper. Aber ich ging viel zu sehr in dem Kampf für das große Ziel auf, als versucht sein zu können, meine Entscheidung rückgängig zu machen.“
Das Ziel war der Versuch, die alte Gesellschaft in eine komplett neue Ordnung zu führen, an Haupt und Gliedern. Der Terror war eine logische Konsequenz dieses beispiellosen Unternehmens, schreibt der deutsche Historiker Gerd Koenen. Er bedeutete „eine nicht nur metaphorische oder ideologische, sondern blutig-physische ‚Säuberung‘ des jeweils vorhandenen Gesellschaftskörpers von oben bis unten, mittels derer alles weggeschnitten, ausradiert und fortgewaschen werden sollte, was als schädlich, feindlich und gefährlich, das heißt als zu selbständig, zu individuell, zu kosmopolitisch galt“. Irgendwo eingescharrt, „mit einem akkuraten kleinen Loch im Schädel“.
Bis weit in die Achtzigerjahre (und bei einigen bis heute) war in der Linken, durchaus der jakobinischen Tradition verhaftet, die Ansicht verbreitet, dass die Beseitigung politischer Feinde gerechtfertigt sei. Wo gehobelt wird, fliegen Späne. Man habe die Pflicht, sich auf die Seite des geschichtlichen Fortschritts zu stellen, ungeachtet moralischer Bedenken. „Die Opfer des Kommunismus konnte man mühelos als Opfer der Geschichte darstellen, nicht als Opfer von Menschen. Aus diesem Abstand konnte man wunderbar über Kosten und Nutzen der Geschichte debattieren“, schreibt der britische Historiker Tony Judt. „Kurzum, wir müssen den Blick nur fest auf künftige Ziele richten, dann lassen sich alle gegenwärtigen Verbrechen rechtfertigen.“
Der Kalte Krieg hielt alle Einlassungen mit den Verbrechen Stalins ebenso nieder wie jene über die Nazis. Es erforderte allerding einige Energie, um Renegaten wie Arthur Koestler, André Gide oder Ignazio Silone zu widersprechen, als sie 1949 die Gründe ihrer Abkehr vom Kommunismus publizierten. In den nächsten zwanzig Jahren folgten ihnen sehr viele, die seit ihrer Jugend ihren Traum verteidigt hatten. Zu lange, wie die meisten fanden. Das hartnäckige Narrativ vom „Einfachen, das schwer zu machen ist“, wie Bert Brecht gerne zitiert wurde, überlebte dennoch die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Der Kindertraum des Kommunismus blühte in den Sekten der Achtundsechziger weiter, und jeder weiß, dass er nicht gut ausgegangen ist. Ein „unendliches Niemalsland“, wie sich Gerd Koenen erinnert. Es dauerte bis 1989, ehe dieses grandiose Projekt endgültig zerschellte.
Dabei ging es um weitaus mehr als um eine zerstörte Hoffnung. Es ging um Glaubensverlust. „Die Hingabe an eine reine Utopie und die Revolte gegen eine ‚verderbte‘ Gesellschaft sind die beiden Pole, welche die allen Glaubensbekenntnissen eigene Spannung erzeugen“, schrieb Arthur Koestler 1949. „Die Frage aufzuwerfen, welcher der beiden Pole den Strom zum Fließen bringt, hiesse die alte Frage nach Ei und Henne stellen.“ Sechzig Jahre später sagte Tony Judt, wie Trepper und Koestler in seiner Jugend ein glühender Linkszionist: „Jedenfalls musste die Sorte Wahrheit, die der Gläubige suchte, nicht der Realität standhalten, sondern nur dem, was die Zukunft bringen würde. Es ging immer um den Glauben an ein späteres Omelett, für das schon jetzt, in der Gegenwart, unendlich viele Eier zerschlagen werden durften. Wer nicht mehr glaubte, gab nicht bloß eine Kollektion von Daten auf, die man bislang offenbar falsch interpretiert hatte, sondern ein Narrativ, das Daten jedweder Art rechtfertigte, solange der künftige Erfolg garantiert war.“
Demonstration gegen „Großbauern“ in der UdSSR: „Wir werden die ,Kulaken‘ als Klasse liquidieren“
Inzwischen hat sich ein unübersehbarer Strom von Erinnerungen, Filmen, Quelleneditionen, akribischen Forschungsberichten und literarischen Verarbeitungen der geschichtlichen Katastrophe des realen Kommunismus angenommen. 1997 kam das zweibändige, jeweils tausendseitige „Schwarzbuch des Kommunismus“ auf eine weltweite Bilanz von nahezu hundert Millionen Toten. Und doch wurde diesen Opfern nie die Aufmerksamkeit zuteil wie jenen der nationalsozialistischen Verbrechen, vor allem nicht in Russland selbst. Es „herrschte eine auffällige Asymmetrie“, schreibt der deutsche Historiker Karl Schlögel. „Eine Welt, die sich die Namen von Dachau, Buchenwald und Auschwitz eingeprägt hat, tat sich schwer mit Namen wie Workuta, Kolyma oder Magadan … So starben die Opfer Stalins ein zweites Mal, diesmal im Gedächtnis. Sie verschwanden im Schatten der Jahrhundertverbrechen der Nazis, sie wurden unsichtbar hinter den unvorstellbar großen Opferzahlen des Großen Vaterländischen Krieges. Sie blieben auf der Strecke in den ideologischen Abrechnungen des Kalten Krieges.“
Schlögel veröffentlichte seine Reise ans Ende der Nacht über Moskau 1937, zwanzig Jahre nachdem die Menschenrechtsbewegung Memorial begonnen hatte, die Topografie der Massaker zu vermessen. Er hoffte damals, 2008, dass im Herzen des Terrors, in der Lubjanka, dem ehemaligen KGB-Zentrum in Moskau, wo Zehntausende verhört und in den weitläufigen Kellern gefoltert und erschossen worden sind, ein Ort des Gedenkens entstehen könne. Davon ist Putins Russland weit entfernt. Dort befinden sich heute der Inlandsgeheimdienst FSB und das Geheimdienstarchiv. Memorial wird heute als „ausländischer Agent“ geführt und kommt schwer unter Druck. Für Stalin werden im ganzen Land neue Museen errichtet. Über seine Verbrechen und jene, die sie exekutiert haben, wird kein Wort verloren.
Leopold Trepper, 1954 nach zehn Jahren Haft aus der Lubjanka entlassen, wurde von seinem eigenen Sohn, der ihn nicht wiedererkannte, gefragt: „Warum wurden Sie verurteilt? Bei uns verbringen Unschuldige nicht zehn Jahre hinter Gefängnismauern.“ 1974 zog er Resümee: „Haben wir unser Leben nicht für die Suche nach einer neuen Welt geopfert? Wir lebten in der Zukunft, und wie das Paradies der Gläubigen, rechtfertigte die Zukunft unsere ungewisse Gegenwart … Ich weiß, dass die Jugend dort, wo wir gescheitert sind, Erfolg haben wird, dass der Sozialismus siegen wird, und dass er nicht die Farben der russischen Panzer haben wird, die Prag zermalmt haben.“
Lion Feuchtwanger, der sich sehr wohl der Verunsicherung bewusst war, in die ihn seine Reise nach Moskau gestürzt hatte, ließ bereits drei Jahre später einen Komponisten namens Sepp Trautwein, ein weiteres Alter Ego, in seinem Roman „Exil“ sagen: „Ihr andern, ihr habt es gut. Ihr sitzt in eurer Weltanschauung wie der Dotter im Ei“ (dieses Ei und sein Dotter kehrt immer wieder), „ihr messt die ganze Welt an euern Prinzipien ab wie an einem Zentimeterstab (…) Ich fühl mich gar nicht wohl. Ich habe begriffen, dass eure Grundprinzipien richtig sind: aber ich hab es eben nur begriffen. Mein Hirn sieht es ein, aber mein Gefühl geht nicht mit, mein Herz sagt nicht ja. Ich hänge an meiner altmodischen Freiheit (…) Das Alte ist doch noch nicht tot, und das Neue ist noch nicht lebendig, es ist eine scheußliche Übergangszeit, es ist halt wirklich ein jämmerlicher Wartesaal!“ Das war ein nüchterner Befund und weitaus realistischer als Treppers lebenslanger Traum.
Tony Judt hat sich leidenschaftlich mit Osteuropa und dem Kommunismus auseinandergesetzt, der in seiner Familie tiefe Spuren hinterlassen hat. Ebenso Gerd Koenen, in seiner Jugend linksradikal, Maoist, Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands. Nach seiner Begegnung mit der polnischen Solidarność sagte er sich los und wurde, wie Arthur Koestler, ein scharfer Kritiker und Historiker des Großen Terrors.
„Alles fließt, alles ändert sich“, schrieb Wassili Grossmann, der sowjetische Chronist der stählernen Zeit. „Man steigt nicht zweimal in denselben Transport.“
Zitierte Literatur
Babel, Isaak (1961), Budjonnys Reiterarmee. München: dtv.
Feuchtwanger, Lion (1963), Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Berlin: Aufbau.
Feuchtwanger, Lion (1993, [1937]), Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Berlin: Aufbau.
Feuchtwanger, Lion (1984, [1937]), Der Ästhet in der Sowjetunion. In: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt a. Main: Fischer.
Feuchtwanger, Lion (1974), Exil. Berlin, Weimar: Aufbau.
Gide, André/Koestler, Arthur u. a. (1950), Ein Gott der keiner war. Arthur Koestler, André Gide, Ignazio Silone, Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr. Mit einem Vorwort von Richard Crossman und einem Nachwort von Franz Borkenau. Zürich, Stuttgart, Wien: Europa Verlag.
Grossmann, Wassili (2007), Leben und Schicksal. München: Claassen.
Jeske, Wolfgang/Zahn, Peter (1984), Lion Feuchtwanger oder Der arge Weg der Erkenntnis. Stuttgart: Metzler’sche Verlagsbuchhandlung.
Judt, Tony (2005), Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München: Hanser.
Judt, Tony/Snyder, Timothy (2013), Nachdenken über das 20. Jahrhundert. München: Hanser.
Koenen, Gerd (1998), Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus? Berlin: Alexander Fest Verlag.
Koenen, Gerd (1990), Der Kindertraum vom Kommunismus In: Pflasterstrand, Juli 1990.
Schlögel, Karl (2008), Terror und Traum. Moskau 1937. München: Hanser.
Trepper, Leopold (1975), Die Wahrheit. Ich war der Chef der Roten Kapelle. München: Kindler.
Helene Maimann
Foto: Julia Stix