Jüdischsein im 21. Jahrhundert von György Dalos

 

 

Wie die Juden von Budapest ohne ihr Zutun in den auf viele antisemitisch wirkenden Konflikt des ungarischen Regierungschefs mit George Soros gerieten.

Zum 80. Geburtstag des Rabbiners Joel Berger

(Joel Berger, geboren am 7. September 1937 in Budapest, war bis 2002 Landesrabbiner des Rabbinats Württemberg und lange Dozent an der Universität Tübingen.)

Altwerden ist ein Prozess, bei dem die Vergangenheit auf Kosten der Zukunft immer mehr an Terrain erobert. Der Rückblick wird länger und führt manchmal zu verblüffenden Ergebnissen. Im Herbst 1943, als ich in Budapest geboren wurde, lebten Adolf Hitler und sein ungarischer Verbündeter, der Reichsverweser Miklós Horthy, noch. Obwohl die Schlacht um Stalingrad den Ausgang des Krieges im Prinzip vorentschied und der Untergang der 2. ungarischen Armee bei Woronesch das königlose Königreich an der Donau im Grunde kampfunfähig machte, lag das Ende des Schreckens noch weit entfernt. Der im Mai gestürzte italienische Diktator Benito Mussolini wurde im September ausgerechnet an meinem Geburtstag durch Hitler wieder in Amt und Würden gesetzt und in den Stäben der Wehrmacht begann man mit der Ausarbeitung des „Unternehmens Margarethe“, die Ungarns militärische Besetzung vorsah, deren wichtigste Zielsetzung darin bestand, den Ausstieg des Landes aus dem Krieg zu verhindern.

Zwar litten die ungarischen Juden unter den immer schärfer werdenden Rassengesetzen und dem waffenlosen Frontdienst auf den Minenfeldern der Ukraine, aber im Lande selbst mussten sie zunächst nicht um das nackte Leben bangen, verfügten sogar über ihre konfessionellen, sozialen und kulturellen Institutionen. An langen Abenden trösteten sie sich mit den Sendungen der BBC, einige hofften auf Churchill, andere auf Stalin, wieder andere träumten von der Auswanderung nach Palästina, jedenfalls aber stand ihnen die wahre Katastrophe – die Schande des gelben Sterns, die Ghettoisierung und die Massendeportation in die Vernichtungslager des Reichs – noch bevor. Mehr als siebzig Jahre später konstatiere ich etwas verwundert, dass ich bei diesen historischen Ereignissen, rein physisch gesehen, bereits anwesend war, sie miterlebt, mehr noch, überlebt habe. Und obwohl ich während meiner Laufbahn als Schriftsteller und Historiker auch mit ganz anderen Dingen beschäftigt war, verließ mich das seltsame Gefühl nicht, nach wie vor in einer Zeit zwischen dem Schlimmen und dem noch Schlimmeren zu leben. Unter diesem Blickwinkel erscheinen mir selbst banale Affären des hasserfüllten und zugleich operettenhaften ungarischen Lebens so, als wären sie Alarmzeichen für die Erinnerung.

Anfang Juli 2017 waren kilometerlange Werbeflächen, u. a. in den Budapester U-Bahn-Stationen, mit den Fotos eines breit lächelnden alten Mannes vollplakatiert. Rechts vom Bild stand der erklärende Text „99 % lehnen die illegale Einwanderung ab“ und in größeren, fetten Buchstaben: „Lassen wir nicht zu, dass am Ende Soros lacht!“ Später lagen dieselben Plakate in Autobussen und Straßenbahnen auf dem Boden herum, damit die Fahrgäste auf ihnen herumtrampeln konnten. Politisch gesehen gehörte diese denkwürdige Exposition zur sogenannten „Nationalen Konsultation“ der Regierung Orbán – als Teil des Propagandafeldzugs gegen die Migrationspolitik der Europäischen Union, die laut offiziellem ungarischem Standpunkt von dem in den USA lebenden Milliardär ungarisch-jüdischer Abstammung George Soros direkt beeinflusst sowie über die von ihm geförderten NGOs auch finanziert werden sollte. Soros selbst wurde in einer Rede des Ministerpräsidenten Viktor Orbán als „herausragender internationaler Finanzspekulant“ bezeichnet, der „das Leben von Millionen zugrunde gerichtet hat, um davon zu profitieren“.

In der Folge entbrannte eine Diskussion um die Frage, ob die Plakate mit dem Soros-Porträt antisemitisch seien. Vertreter der regierenden Partei Fidesz wiesen das von sich, sprachen von ihrer Nulltoleranz gegenüber Judenfeindlichkeit und erklärten, dass Ungarns Juden unter dem Schutz der Regierung stünden. Orbán untermauerte seine Thesen zuerst mit dem Hinweis auf die Erklärung einer orthodoxen Gemeinde in New York, die nur Lobesworte für die Zusammenarbeit mit den ungarischen Behörden übrig hatte. Kurz darauf führte er ein Gespräch mit dem Oberrabbiner der Jerusalemer Aschkenasim, David Lau, der sich wiederum von der „Blüte des jüdischen Lebens“ in Ungarn begeistert zeigte. Die heimischen Juden waren von der „Operation Soros“ weniger angetan. So bat der Gemeindevorsteher András Heisler in einem äußerst höflichen Brief den Ministerpräsidenten darum, die unzähligen Bilder zu entfernen. „Diese Kampagne ist nicht offen antisemitisch, doch durchaus geeignet, unkontrollierbare, unter anderem antisemitische Emotionen auszulösen.“ Damit bezog er sich vorsichtig auf die Peinlichkeit, dass auf mehreren Plakaten der handschriftliche Zusatz „Stinkjude“ auftauchte. Schärfer formulierte es Israels Botschafter in Budapest, Yossi Amrani. Er forderte „die Verantwortlichen der Plakatkampagne“ direkt auf, ihre Aktion, die „jenseits der Kritik einer bestimmten Person Hass und Angst schürt“, einzustellen.

Nach der Intervention des Diplomaten waren viele Beobachter davon überzeugt, dass es sich um einen indirekten Druck aus Jerusalem handelte. Schließlich war bekannt, dass der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu Budapest noch im Juli besucht und dass man ihn unterwegs vom Flughafen in das Stadtzentrum wohl nicht mit den Soros-Plakaten brüskieren wollte. Umso schockierender war die darauffolgende Erklärung des israelischen Außenministeriums, in der Amranis Protest rückgängig gemacht wurde. Die Plakate seien keineswegs antisemitisch, hieß es in der Begründung, sie richteten sich ausschließlich gegen Soros, der angeblich auch „Organisationen fördert, die Israel verleumden“. Damit desavouierte Netanyahu in seiner Eigenschaft als Außenminister des jüdischen Staates, d. h. als Dienstherr, seinen eigenen Botschafter.

Einige Tage später tauchten frühmorgens auf Facebook Meldungen auf, wonach die Soros-Plakate mancherorts sprichwörtlich über Nacht verschwunden waren. Am Vormittag gab dann ein Regierungsvertreter offen zu, dass die Kampagne „abgeschlossen“ sei. Bezeichnenderweise dachte niemand an eine Höflichkeitsgeste gegenüber Netanyahu, sondern man vermutete einen anderen Grund: die Eröffnung der Schwimm-WM am 14. Juli, zu der mehr als hunderttausend ausländische Gäste erwartet wurden und mit der die Regierung ihr etwas angegriffenes Image aufpolieren wollte. Sofort tauchten im Internet unfeine Erinnerungen an die Olympischen Spiele 1936 in Deutschland auf, denen zuliebe die Naziführung judenfeindliche Propagandakulissen vorübergehend aus der Reichshauptstadt entfernen und sogar Thomas Manns Werke in die Schaufenster von Buchhandlungen stellen ließ. Die Fidesz-Leute sprachen hingegen von einem durchschlagenden Erfolg über den Börsenspekulanten Soros, als wäre diesem tatsächlich das Lachen am Hals steckengeblieben.

Mit diesem tragischen und grotesken Vorfall haben Ungarns Juden am wenigsten zu tun – sie sind einfach zwischen die Fronten geraten. Staatsmänner brauchen einander. Netanyahu braucht Orbán teilweise wegen seines eigenen Kleinkriegs gegen die von George Soros geförderten israelischen NGOs, und der ungarische Regierungschef braucht ihn, um seine mit dem Warenzeichen „Nulltoleranz“ versehene zynische „Judenpolitik“ zu rechtfertigen. Diese ist ebenso janusköpfig wie sein ganzes Handeln. Einerseits werden die Gespenster der Vorkriegszeit – zuletzt Horthy höchstpersönlich durch Orbán – rehabilitiert, andererseits fungierte die Regierung 2013 als Gastgeberin des Jüdischen Weltkongresses in Budapest. Sie finanzierte 2014 großzügig jüdische Projekte zum siebzigsten Jahrestag des ungarischen Holocaust, übernahm 2015 die Präsidentschaft der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und organisiert nun für 2019 die internationalen Maccabi-Spiele. Diese finden also ein Jahr nach den Wahlen 2018 statt, bei denen es um die Machterhaltung des zweifellos demokratisch gewählten Machtmenschen Orbán geht. Für ihn ist jede Frage eine Machtfrage und in Georg Soros fand er seinen Intimfeind.

Israels Premier Benjamin Netanyahu bei Viktor Orbán in Budapest. Gemeinsamer Gegner: George Soros

Foto: Aroly Arvai/afp/picturedesk.com

 

 

Die Konflikte mit den ungarischen Machthabern sind keine typisch jüdisch-christlichen Zusammenstöße. Orbáns ehrgeizige Mannschaft hadert nicht allein mit dem einstigen Wohltäter Soros, der über sein Projekt „Offene Gesellschaft“ Millionen in die ungarische Wende investierte, sondern zugleich mit der Europäischen Union und mit deren ganzem Wertesystem, um seine von ihm so genannte „illiberale Demokratie“ zu bestätigen. Hinter diesem nebulösen Begriff steckt zweifelsohne eine alles andere als offene Gesellschaft – Orbáns negative Utopie, in der, wenn nichts dazwischenkommt, eine Generation von Ungarn, Juden wie Nichtjuden, jahrzehntelang leben muss. In der Auswahl der Mittel, die zu diesem Ziel führen sollen, ist die neue Machtelite wenig wählerisch. Selbst die katastrophale Flüchtlingswelle, welche die Solidarität und die Aufnahmefähigkeit des Kontinents auf die Probe stellte, diente Fidesz nur als willkommener Anlass, Brüssel zur Zielscheibe seiner populistischen Demagogie zu machen. Wieso wäre diese Partei ausgerechnet davor zurückgeschreckt, ein Gesicht dem Hass der frustrierten und durch die Medien verdummten Öffentlichkeit auszuliefern, sich dabei des Jud-Süß-Effekts zu bedienen und gleichzeitig die real existierenden Juden zu „Schutzjuden“ zu erniedrigen?

Traurig ist der Konflikt zwischen der Diaspora und Israel, dessen Grundidee vom ungarischen Juden Theodor Herzl stammt. Allerdings fand der Autor des „Judenstaates“ in der eigenen Heimat zunächst kaum Anhänger. Die liberale Atmosphäre der Gründerzeit begünstigte die Assimilation und bei allem, hauptsächlich kirchlichem, Antisemitismus war das Judentum bereits wegen seiner Masse ein eindrucksvoller Faktor der Moderne. Nach dem Ersten Weltkrieg und den darauffolgenden beiden Revolutionen 1918/19, an denen viele jüdische Intellektuellen beteiligt waren, kam der historische Rückschlag – das erste diskriminierende Hochschulgesetz Europas als Vorstufe der späteren massiven Ausgrenzung der 700.000 Menschen zählenden Minderheit. Trotzdem hielt sich die Alija im Rahmen – auch Palästinas Aufnahmekapazität war gering. Aber vor allem besaß das jeweilige Ungarn das zweifelhafte Privileg, dass es dort zu schlechten Zeiten immer ein bisschen besser ging als in den Ländern, deren Situation eben noch schlechter war. Erst das Jahr 1944 mit seinen 500.000 jüdischen Opfern machte den krassen Gegensatz zwischen Anspruch und Realität der Assimilation sichtbar.

Die Entstehung des Staates Israel begünstigte zweifellos die Alija-Wellen, wichtiger war jedoch die moralische Wirkung auf die Generation der Überlebenden. Obwohl das neue Land zwischen Jordanien und Ägypten nicht ganz den idealistischen Vorstellungen von Herzl entsprach, wurde es für viele ungarische Juden zu einer Realutopie. Dabei half nolens volens auch das im Jahr der jüdischen Staatsgründung 1948 etablierte, sich als „Ungarische Volksrepublik“ bezeichnende Regime mit seinem Eisernen Vorhang an der West- und der Südgrenze. Obwohl die Auswanderung erschwert wurde ‒ besonders nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen während des Nahostkriegs 1967 ‒, blieb Israel immer noch der Staat, den „unsereiner“, wie das die alten Juden nannten, quasi als Heimat zum Anfassen sah, als Fluchtort für alle Fälle, als spirituelle Lebensversicherung.

Als Osteuropäer blicke ich eher skeptisch auf die Politik im Allgemeinen und Israel bildet in diesem Sinne keine Ausnahme, zumal seine zahlreichen Regierungen mitunter einander komplett widersprechende Standpunkte vertraten. Trotzdem möchte ich bei aller Kritik an meiner heimlichen Option, der Utopie eines friedlichen Altneulands im Nahen Osten, festhalten und darauf hoffen, dass auch Israel seine Diaspora nicht wie eine zu vernachlässigende Größe betrachtet. Denn obwohl es in Ungarn selbst nach den rosigsten Statistiken nicht mehr als 80.000 Juden gibt und nur 5000 davon ihre Gemeindesteuer zahlen, schätzten unsere schwach informierten ungarischen Mitbürger laut einer aktuellen Meinungsumfrage die Zahl der ungarischen Juden auf eine Million. Also, wehe den Antisemiten!

György Dalos – Foto: Das Blaue Sofa_Club-Bertelsmann

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