Interview – 70 Jahre jüdischer Exodus über die Tauern

 

 

Mit einem der Organisatoren des „Alpine Crossing“ im Jahre 1947, dem mittlerweile 104 Jahre alten Marko Feingold, sprachen Michael Kerbler und Rudolf Leo.

Herr Feingold, vor 70 Jahren, im Jahr 1947, hat ein organisierter Exodus von einigen tausend Jüdinnen und Juden über den Krimmler Tauern stattgefunden. Wann hat eigentlich die Planung für diese Fluchthilfeaktion begonnen, die vom Lager Givat Avoda für Displaced Persons in Saalfelden nach Krimml und von dort über den Tauernpass auf 2634 Meter hinunter ins Südtiroler Ahrntal geführt hat. Wann hat es begonnen?

Marko Feingold: Das kann ich sehr genau sagen. Das muss im Sommer 1947 gewesen sein. Denn bis dahin haben wir Transporte über die französische Zone nach Italien gebracht. Die Franzosen haben uns ziehen lassen, haben sich nicht gekümmert, obwohl die Engländer bei ihnen wiederholt interveniert haben, sie sollen die Transporte nicht durchlassen. Aber bis dahin hatte ich schon 100.000 Juden nach Italien gebracht.

Aber dann war es so, dass die Engländer im Frühsommer 1947 spürten, dass es demnächst über Israel, über Palästina, … wie soll ich sagen … auf dem Weltkongress in den USA zur Abstimmung über Palästina kommen wird, ob man nämlich den Judenstaat schafft oder nicht. Die Engländer waren dagegen und wollten keine Juden in Palästina haben. Also wollten sie den Zuzug unterbrechen.

 

Also zu einer Abstimmung in der UNO-Vollversammlung in New York.

Ja, und diese Abstimmung stand bevor und die Engländer, die bis dahin bei den Franzosen interveniert hatten, setzen Frankreich jetzt unter Druck. Die Folge war: die Franzosen haben uns die Durchfahrt verweigert. Es ist sogar zu einer Schießerei gekommen, und da haben wir gewusst, jetzt ist aus damit, Juden auf diesem Weg nach Süden zu bringen. Und zufällig ist mir in diesen Tagen ein Plan in die Hände gekommen. Es muss ein Plan von den Amerikanern gewesen sein, eigentlich mehr so eine Skizze als ein Plan. Die amerikanische Zone grenzte direkt an Italien, die Luftlinie betrug zehn Kilometer. Diese Grenze sind die Krimmler Tauern gewesen.

 

Der Weg über den Krimmler Tauern war einer von drei Wegen, die von Europa damals nach Palästina führten. Aber 1947 ein ganz wichtiger.

Ja, Moment, das kommt jetzt. Der Krieg endete mit 15 Millionen Flüchtlingen, darunter zwei- bis zweieinhalb Millionen Juden, die in ihren Heimatländern nicht mehr aufgenommen wurden. Die ‒ ich würde sagen ‒ herumgeirrt sind. Und die hatten nur eine Idee: wegzugehen. Die, die Verwandte in Amerika gehabt haben, wollten nach Amerika gehen, aber mehr als eine Million Juden, die zog es nach Palästina. Aber wie kommt man dorthin. Dafür hat man die Bricha (jüdische Fluchthilfeorganisation, „Bricha“ heißt Flucht, Anm. d. Red.) gebraucht, dass sie Leute bei Nacht und Nebel herausbringt. Und diese Juden haben dann drei Wege gehabt. Der eine führte über den Osten, das heißt über Rumänien, Ungarn, Türkei nach Palästina, der zweite Weg führte über Deutschland, Österreich nach Italien und der dritte Weg war der französische Weg über Marseille nach Haifa. Und ich war zuständig für den Weg Deutschland – Österreich – Italien.

 

Und das hat bedeutet, Sie waren verantwortlich dafür, einen neuen Weg über die Berge in Richtung Italien auszukundschaften, auf dem man Frauen, Männer und Kinder in den Süden schleusen konnte.

Genau, und da ist mir wieder diese Planskizze eingefallen, und ich sehe da eine Art Zunge, zehn Kilometer Luftlinie grenzen die Amerikaner direkt an Italien. Der Krimmler Tauern, der Gerlospass und so weiter. Und ich mach mich auf die Socken, das heißt Aba Gefen und noch zwei andere Herren haben wir eingeladen, an die Grenze zu fahren, um uns das anzuschauen. (Anm.: Im Herbst 1945 hatte sich die Bricha österreichweit organisiert und arbeitete eng mit dem jüdischen Zentralkomitee in Wien zusammen. Ihr Kommandant war Asher Ben-Natan, ein gebürtiger Wiener, der 1938 nach Palästina ausgewandert war, der Kommandant in Salzburg war Aba Gefen, ein ehemaliger Partisan aus Litauen.) Und wir fahren wie Ausflügler in der Gegend herum. Nur ich sehe den Krimmler Wasserfall nicht. Bis ich auf einmal den Wasserfall in der Ferne entdecke. Und dann habe ich das ausgekundschaftet, dass wir das über Krimml machen können. Schließlich bin ich mit einem Pkw die Straße zum Krimmler Tauernhaus raufgefahren. Die letzten hundert Meter wollten die Räder nicht mehr, drehten durch, es war so ein Schotterweg. Meine Beifahrer sagen zu mir: Weißt was, Feingold, dreh um und fahr verkehrt herum hinauf. Und stellen Sie sich vor (lacht laut auf) … das ist gegangen, die letzten hundert Meter sind wir so gefahren!

War damals schon Bergführer Viktor Knopf dabei, der sehr viele Menschen über den Krimmler Tauern geführt hat?

Der Knopf war ein Flüchtling, der aus Breslau/Wrocław gekommen ist. Er sprach sehr gut Deutsch und er hat in Saalfelden die illegale Leitung der Organisation übernommen. Er stellte die Leute zusammen, die gebracht wurden. Um elf Uhr nachts sind vier, fünf Fahrer mit ihren Lkw gekommen und haben je dreißig Leute aufgeladen. Damals war die Straße sehr schwierig, die Straße von Saalfelden bis nach Krimml. Man ist nur sehr langsam vorwärtskommen. In Krimml sind die Leute um drei oder vier Uhr früh gelandet. Es war Sommer, da fängt es um diese Zeit schon an, hell zu werden. Und die Gendarmerie steht da. Und fragen sich, was wollen denn die da? Dann haben sie erkannt, dass das jüdische Flüchtlinge sind. Und wir haben ihnen schon zu verstehen gegeben, wir gehen zum Tauernhaus usw. Und die Beamten fragen in Salzburg an, was sollen wir machen mit den Leuten, und der Mann von der Sicherheitsdirektion sagt: „ich weiß nichts davon, da müsst ihr schon Wien anfragen“. Man ruft also in Wien an, im Ministerium, und damals war der Innenminister ein gewisser Oskar Helmer und Herr Helmer sagt: „die Gendarmen sollen die Fenster zumachen, Vorhänge zuziehen, das geht sie nichts an“.

 

Und sie sollen nicht aus dem Fenster schauen.

Genau. Sie sollen „nicht aus dem Fenster schauen“. Ein Gendarmeriebeamter hat mir erzählt: „Wir haben den Anruf gemacht und gehört, das geht uns nichts an, aus, erledigt.“ Und so sind dann die Transporte weitergegangen, immer nach dem gleichen Schema: Spätabends wurde wegfahren von Saalfelden und in der Früh um drei oder vier Uhr war die Ankunft. Dann sind die Leute hinauf zum Tauernhaus gegangen. Untertags wurden die Leute verpflegt, alles hergerichtet, sie konnten sich ausruhen und am Abend ist man weitergegangen. Der Grund, warum man am Abend und in der Nacht gegangen ist mit den Leuten, man hat ihnen nur eingeschärft, ihr müsst euch rechts – wenn es schmal wird – an den Felsen anhalten. Sie sollten nicht sehen, wo man sie da führt, sonst wäre keiner mitgegangen. Wir haben zum Glück keine Unfälle gehabt.

 

Also es gab keine Unfälle, keine Verletzten.

Nichts, nichts.

 

Auch keine Geburten?

Das ja! Da kann ich mich sogar an einen Fall erinnern. Der Doktor Löschner, der Alpine Peace Crossing aufgebaut hat, hat im ersten Jahr, glaub ich, zehn oder fünfzehn Leute, die man 1947 hinübergeführt hat, eingeladen, nach Krimml zu kommen. Und man hat sich natürlich mit ihnen unterhalten und eine Frau mit – na ich weiß nicht – sechzig Jahre war sie, „ja ich kann mich erinnern, meine Mutter hat mich getragen“. Ja, wie hat sie ihre Mutter getragen? „Im Bauch“. Wenige Tage später, nachdem sie nach Mailand gekommen sind, hat die Mutter entbunden. Also man muss verstehen, dass die Frau schon hochschwanger den Weg mitgemacht hat. Immerhin ist so eine Kolonne zehn Stunden unterwegs gewesen. Sie sind meistens im Morgengrauen in Kasern angekommen.

Eingangstor des Lagers Givat Avoda für Displaced Persons in Saalfelden: Ab in den Süden

Foto: Moshe Talit

 

 

Wie, Herr Feingold, war es eigentlich möglich, dass sich Menschen aus unterschiedlichsten Teilen Europas, aus Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei, aus dem Osten Österreichs, aufgemacht haben nach Saalfelden in Salzburg. Um von dort – so wie Sie das beschrieben haben – über den Krimmler Tauern – nach Italien zu gehen. Es gab ja kein Handy. Wie haben die Menschen das erfahren? Woher wussten die, dass über Saalfelden ein Weg nach Israel führt?

Mach ma ein Wunder selbstständig! Die Juden haben in Italien eine eigene Brigade gebildet und als Teil der britischen Armee gekämpft. Die Mafia hat dabei geholfen, Sizilien zu besetzen, die Einheit ist dann den Stiefel hinaufgezogen und wurde schließlich in Tarvis stationiert. Tarvis war schon 1944 befreit worden und so sind viele Juden aus Rumänien, aus Polen usw. nach Tarvis gekommen. Und Mitglieder dieser Brigade haben diesen Jüdinnen und Juden geholfen, nach Süditalien zu fahren, um von dort über Griechenland nach Israel zu gelangen. Denn die Briten waren bekanntlich dagegen, dass Juden nach Palästina gehen.

Das ist die eine Geschichte. Die Briten haben – als sie herausgefunden hatten, welche Aktivitäten diese Brigade entfaltet hat – diese Einheit nach Belgien versetzt und wenig später aufgelöst. Diese Gruppe hat sich dann organisiert und hat es dann geschafft, ganze Züge zu organisieren, Leute mit falschen Papieren zu versorgen und diese Menschen so über Deutschland, durch Österreich hinunter nach Italien zu bringen. Die haben wirklich wunderbare Sachen gemacht. Hundertausende Juden sind auf diesem Weg in den Süden gebracht worden.

 

Und jene Menschen, die von Saalfelden nach Krimml und von dort ins Ahrntal gegangen sind, haben die es dann bis nach Israel geschafft?

Ja, die meisten von ihnen haben es bis nach Haifa geschafft. Sind sesshaft geworden, haben sich eine Existenz aufbauen können.

 

Haben die Menschen im Pinzgau, also in der Region, diese Fluchtbewegung wahrgenommen?

Niemand hat Notiz genommen.

 

Hat es Unterstützung gegeben oder …

Die haben sich nicht gekümmert drum und gemeint, nur weg, weg mit ihnen.

 

Warum wir vorher auch nach Viktor Knopf gefragt haben: Wann hat die erste Wanderung über den Berg stattgefunden? Wann war wirklich das erste Mal?

Im Juli. Juli, August, September. In diesen drei Monaten haben wir 5000 Leute hinuntergebracht. Wöchentlich mindestens drei Mal, und alle drei Mal ist der Knopf mitgegangen. Und wieder zurückgegangen.

 

In einem Buch, das in einem Südtiroler Verlag erschienen ist, haben wir eine Aussage von Viktor Knopf gefunden, und er sagt: „Es werden so um die 8000 Menschen gewesen sein, die über den Berg gegangen sind.“ Wie viele Jüdinnen und Juden sind tatsächlich über den Krimmler Tauern gegangen?

Das kann ich nicht sagen. Ich bin immer von 5000 ausgegangen. Weil mit 8000 geht sich das nicht aus, drei Mal wöchentlich und 150 sind es immer gewesen. Das weiß ich.

 

In den Unterlagen, die ich gefunden habe, wurden Zahlenangaben zwischen 5500 bis 5700 Personen genannt.

Das kann stimmen.

 

Aber es wurde nie 6000 überschritten?

Nein.

 

Und der Exodus hat nur in diesen drei Monaten, Juli, August, September, stattgefunden, oder auch noch im Oktober?

Nein. Ab Oktober, wenn es herunten regnet, war oben ein halber Meter Schnee. Die niedrigste Stelle ist 2500 Meter hoch, also da ging nichts mehr, und im Winter, glaub ich, ist dann der Spruch gekommen: Der Staat Israel ist gegründet.

 

Also, um es ganz genau zu sagen, im Juli war die erste Flüchtlingsüberquerung über den Tauern und im September die letzte.

Ja, kann man sagen. Wir haben Glück gehabt mit dem Wetter, es gab fast keinen Regen. Weil wenn es geregnet hat, war oben Schnee. Die Ausrüstung der Leute war erbärmlich.

 

Ist auch noch ein anderer Bergführer mitgegangen oder ist Knopf immer allein mitgegangen?

Das kann ich nicht sicher sagen, möglicherweise sind auch andere Bergführer mitgegangen. Das erste Mal bin ich selbst mitgegangen. Ich hatte andere Möglichkeiten, die Grenze zu passieren, weil ich schon einen Reisepass hatte. Den habe ich schon 1946 gekriegt vom Innenministerium in Wien. Also nicht von der Polizeidirektion Salzburg, die durften diese damals noch nicht ausstellen. Ich habe meinen aus Wien bekommen, weil ich dort einen Bekannten gehabt habe im Innenministerium. Daher konnte ich nach der Tour von Meran im Zug über Bozen fahren und dann nach Krimml kommen.

Die Route über den Krimmler Tauern: Ab Oktober lag 1947 Schnee, da ging nichts mehr

Foto: Sarah Leo

 

 

 

Und mit der Ausrufung des Staates Israel wurde die Fluchthilfe beendet?

Mit der Gründung des Staates Israel hat das alles natürlich aufgehört. Aber die Geschichte besagt, einige Schiffe sind im Mittelländischen Meer von den Engländern aufgegriffen worden und man die Leute nach Zypern gebracht und dort in einem Lager untergebracht. Meine Frau ist ein sehr neugieriger Mensch. Wir waren einmal in Zypern. Mit wem auch immer sie in Zypern damals gesprochen hat, niemand hat gewusst, dass dort ein jüdisches Lager war.

 

Wer hat denn entschieden, wer über die Tauern gehen kann?

Es sind nach Saalfelden nur gehfähige Leute gekommen. Um eben schon zu verhindern, dass, sagen wir, alte Leute dann dortbleiben müssen. Niemand sollte bleiben.

 

Stimmt es, dass die Bricha Wert darauf gelegt hat, dass nur die jungen und gehfähigen Männer und Frauen über den Berg gehen? Man dachte an den Widerstandskampf und den Aufbau der Kibbuzbewegung, da wären ältere Personen für die Fluchtbewegung eine Belastung gewesen.

Das ist richtig, die älteren Leute hat man dann auf anderem Wege, per Zug, mit falschen oder echten Papieren, hinuntergeschleust. Und der Rest ist eben übriggeblieben. Man darf nicht vergessen, bis ins Jahr 1950, 1952 hat es immer noch Lager hier gegeben.

 

Seit vielen Jahrzehnten berichten Sie in Schulen, an Universitäten oder im Wiener Burgtheater in „Die letzten Zeugen“ über die Verbrechen der Nationalsozialisten, über das, was Ihnen in den Konzentrationslagern widerfahren ist und was Sie gesehen haben. Und Sie erinnern sich auch heute noch an viele Details, so als wäre das gestern geschehen.

Ich muss mich erinnern.

 

Aber wie geht es Ihnen dann, wenn Sie miterleben, was sich politisch in Europa ereignet. Stichwort: Rechtsruck. Wenn jemand wie Sie eine so lange Wegstrecke seines Lebens immer wieder vor solchen Entwicklungen warnt: Das darf sich nicht wiederholen! Und dann treffen einander – wie Mitte Februar – mehr als tausend Neonazis in Budapest und gedenken der letzten großen Schlacht der ungarischer Pfeilkreuzler, der Waffen-SS und Wehrmachtssoldaten …

Ja, oder denken Sie nur, was die Türken heute aufführen …

 

Worauf müssen wir also aufpassen? Was gilt es zu verhindern?

Das darf sich nicht wiederholen. Und bis zu meinem jüngsten Tag werde ich dafür plädieren, dass man seine Geschichte kennenlernen muss. Die Eltern müssen dieses Wissen an ihre Kinder weitergeben. Darum geht es. Wissen Sie, ich bin heute sehr stolz darauf, wenn Schüler zu mir kommen und sagen: „Ich soll ihnen einen schönen Gruß von meiner Mutter bestellen“. Und ich denke mir, ich kann mich nicht an die Frau erinnern. Der Schüler ist vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Und dann sagt der: „sie bedankt sich bei Ihnen für einen Vortrag“, den ich vor langer Zeit gehalten habe. Das finde ich schön. Dass die zweite Generation zu mir kommt. Und wenn die Mutter sich an unsere Begegnung erinnern kann, dann ist auch etwas hängengeblieben. Und das freut mich!

Eines möchte ich doch betonen: Ich bin ein Gegner jeder Art von Diktatur. Ob sie von links kommt oder ob sie von rechts kommt. Oder ob sie über die Religion kommt. Auch über die eigene Religion.

Bild 1: Rudolf Leo – Foto: privat
Bild 2: Michael Kerbler – Foto: privat

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