Der zornige Realist von Uli Jürgens

Vor 1945 als jüdisches Kind knapp und unter dramatischen Umständen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entkommen, wanderte er wenige Jahre später in den neu gegründeten Staat Israel aus, wo er seither in einem Kibbuz lebt. Ein Porträt des Israelis Fredi Dagan, der beim Fußball noch zu Österreich hält.

Er hat so ein verschmitztes Lächeln um die Augen, wie er dasitzt in seiner Hollywoodschaukel auf der Terrasse seines bunten Hauses im Kibbuz Kfar Blum im äußersten Norden Israels. Fredi Dagan, der als Kind herumgeschubst und als Jugendlicher ausgelacht wurde. Der sich oftmals nicht anders zu helfen wusste, als seine Fäuste einzusetzen. Der sich als junger Mann gegen den Willen der Eltern aufmachte, um den Staat Israel mitaufzubauen. Sein Deutsch ist etwas eingerostet, doch in seiner Erinnerung ist alles ganz klar, als wäre es gestern gewesen.

Fredi Dagan wurde als Alfred Degen am 3. Oktober 1937 in Wien geboren, die kinderreiche jüdische Familie wohnte im Bezirk Foridsdorf in der Arbeiterstrandbadstraße, direkt an der Alten Donau. Fredis Vater war Kommunist und überzeugt davon, dass sich der Nationalsozialismus in Österreich nicht durchsetzen würde. Erst im Jahr 1939, kurz vor Kriegsbeginn, sah er seinen Irrtum ein und ergriff die Flucht. Die Familie wollte nach Palästina emigrieren, alle Dokumente für die Ausreise waren bereits genehmigt. Doch dann wurden drei von Fredis Geschwistern direkt aus der Schule nach Theresienstadt deportiert. Die Fluchtpläne wurden geändert, eines der Kinder war krank und blieb in Wien bei Freunden, den Rest der Familie verschlug es zunächst nach Berlin, dann nach Belgien. Zwei von Fredis Brüdern starben auf der Flucht. Vater Artur kehrte schließlich nochmals um, er wollte die verschleppten Kinder freibekommen. Wurde bei diesem Versuch selbst verhaftet und ins belgische Lager Mechelen gebracht, ein Durchgangslager für die Deportation in deutsche Vernichtungslager.

Trotz vorhandener Ausreisedokumente – Pass von Fredi Dagans Eltern – ging die Flucht der Degens schief.

Foto: Trilight Entertainment

 

Mutter Leopoldine, der knapp zweijährige Fredi und seine Schwester wurden in Belgien getrennt – zu groß war die Angst, dass die Kinder als jüdisch erkannt werden könnten. Und so zog Fredi fünf Jahre lang von einem Kinderheim ins nächste, wuchs unter widrigsten Umständen auf. Strafen standen auf der Tagesordnung, wer seine Erbsen nicht essen wollte, musste in den Keller, wo die Ratten hausten. Zum Zeitvertreib übten die Buben Messerwerfen – Fredi war einer der Besten. Die letzten Jahre besuchte er in einem Kloster die ersten beiden Volksschulklassen. Irgendwann 1945 hieß es: „Deine Mutter kommt!“ Mutter und Sohn vereint, doch dennoch weit voneinander entfernt. Leopoldine sprach Deutsch und Ungarisch, Fredi nur Französisch. Er erinnert sich an ein Begrüßungseis im Eissalon der Ortschaft. Der Vater hatte wie durch ein Wunder das belgische Lager Mechelen überlebt, die von der Familie Übriggebliebenen kehrten mit der britischen Armee nach Wien zurück.

Nach 1945 zurück in Wien, sprach Fredi (2. Reihe v. unten, 2. v. links) nur Französisch. Mitschüler lachten, wenn er „Ose“ und „Emd“ ohne H sagte

Foto: Trilight Entertainment

 

In der Diefenbachgasse im 15. Wiener Gemeindebezirk bezog die Familie eine Wohnung. Alle taten sich schwer, den Alltag zu bewältigen. 1947 wurde es traurige Gewissheit, dass die drei nach Theresienstadt verschleppten Kinder im letzten Kriegsjahr nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht worden waren. Die Eltern kamen über diesen Verlust niemals hinweg. Einmal habe die Mutter Fotos der Geschwister in der Küche aufgehängt, den Vater habe das rasend gemacht – Geschirr und Möbelstücke gingen zu Bruch, erzählt Fredi. Niemals sei er von seinen Eltern umarmt worden oder hätte einen Kuss bekommen. Es steckte viel Zorn im jungen Fredi, auf einem Klassenfoto aus jener Zeit wirkt er mit seiner Haartolle und dem vorgereckten Kinn wie ein Halbstarker, einer, der schnell heißläuft, der sich mit den Fäusten wehrt. „Es gab viele Schlägereien damals in der Schule, viele“, seufzt der Achtzigjährige. Er konnte kein „H“ aussprechen, hatte er doch in den ersten beiden Klassen nur Französisch gelernt, die Mitschüler lachten, wenn Fredi „Ose“ und „Emd“ sagte. Fredi erzählte in der Schule, dass seine Geschwister in Auschwitz umgebracht worden waren, doch ihm wurde nicht geglaubt. Im Fußballspiel fand er eine Möglichkeit, seine aufgestaute Energie sinnvoll einzusetzen. Sein Klub war die Admira aus Wien-Floridsdorf.

Der Kibbuz Kfar Blum, benannt nach dem französischen Sozialisten Léon Blum, liegt direkt am Jordan, der hier noch ein gemütliches Flüsschen ist

Foto: Trilight Entertainment

 

Die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 ließ in Fredi den Wunsch reifen, dorthin auszuwandern, alles hinter sich zu lassen und mitzuhelfen, den jungen Staat aufzubauen. 1949 wurde er Mitglied der Jugendorganisation Hashomer Hazair. Die Eltern waren gegen die Auswanderung, wochenlang habe er deshalb nicht mit seinem Vater gesprochen. Schließlich Schulabbruch und Lehre zum Elektrotechniker. Eine seiner letzten Arbeiten als Elektriker-Lehrbub sei der Austausch von Glühbirnen im Luster des Zuschauerraumes der Wiener Staatsoper gewesen. Man musste in den Luster hineinsteigen, um an die rund tausend Glühlampen zu gelangen. „Im Prater blühn wieder die Bäume“, summt Fredi vor sich hin. Als Halbwüchsiger sei er in Wien oft ins Theater gegangen, auch Opern und Operetten habe er sich gerne angesehen, viele Melodien sind ihm im Ohr geblieben. Fredi erinnert sich an den Sänger Max Brod, der im „Bettelstudent“ hoch zu Ross auf die Bühne des Raimundtheaters gekommen sei.

Fredi Dagan kam aus einem anderen Kibbuz nach Kfar Blum, weil er von der Fußballmannschaft zum Mitspielen eingeladen wurde

Foto: Trilight Entertainment

 

Sein Haus im Kibbuz Kfar Blum, ganz im Norden Israels, ist das bunteste in der Siedlung, die Wände sind mit Blumenmustern bemalt, ein kleines Holzhäuschen gibt Auskunft darüber, dass man sich in der „Avenue Freddie“ befindet. Drei Katzen schleichen um die Ecken, es duftet nach Zitronen und Gewürzen. Die Sonne steht schon tief, es ist friedlich im Kibbuz. Was Fredis Eltern ihm als Sohn nicht geben konnten, das verteilt er in Israel großzügig an seine Familie. Zärtlich spricht er von seiner Frau, seinen vier Kindern und acht Enkelkindern. Zahlreiche Familienmitglieder wohnen in der unmittelbaren Umgebung, es gibt keinen Tag, an dem sich nicht zumindest einige von ihnen auf einer der Terrassen auf einen Plausch zusammenfinden. Beim Spaziergang durch den Kibbuz winkt Fredi mal hierhin, mal dorthin. Er hat mit allen Fußball trainiert, den Kindern und den Erwachsenen.

Seit 1910 wurde Palästina mithilfe der Kibbuzim besiedelt, die Grenzen des zukünftigen Staates Israel wurden abgesteckt. Als Fredi im Dezember 1955 als 18-Jähriger endlich die Reise nach Israel antrat, lebten in den rund 220 Siedlungen etwa 70.000 Menschen. Fredi kam in den Kibbuz Dan, ganz an der syrischen Grenze, dort, wo einer der Quellflüsse des Jordan entspringt. Täglich gab es Bombenangriffe und Feuergefechte, die Felder waren vermint. Die Grenze des noch jungen Staates musste stets aufs Neue gesichert werden. „17 Stunden haben wir gearbeitet, zwei Stunden Wache gehalten, zwei Stunden getanzt und drei Stunden geschlafen“, erzählt Fredi, der diese Zeit nicht missen möchte, hat er sich doch im Kibbuz (endlich) wie in einer großen Familie gefühlt. Seinen Namen änderte er von Degen auf Dagan, vielleicht, um die Veränderung in seinem Leben sichtbarer zu machen. Von Kindern lernte Fredi jeden Tag ein paar Wörter Hebräisch. Ohne Hebräisch keine Aufnahme beim Militär. Der Unterricht trug Früchte, bald wurde Fredi Dagan Fallschirmspringer in der israelischen Armee. Er kämpfte, wann und wo man ihn brauchte. Wurde langsam zum Fanatiker. Und merkte, dass er das nicht wollte.

Zu dieser Zeit gab es im nahegelegenen Kibbuz Kfar Blum eine Fußballmannschaft. Eines Tages wurde Fredi gefragt, ob er nicht in diesem Team mitspielen wolle. Kfar Blum, benannt nach dem französischen Sozialisten Léon Blum, war 1943 von Mitgliedern der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung Habonim gegründet worden. Die Siedlerinnen und Siedler kamen aus Großbritannien, Südafrika, den USA und dem Baltikum. Hier war alles liberaler. Und Fredi entschied sich für einen Umzug. Die Siedlung liegt direkt am Jordan, der hier im Huletal noch ein gemütliches Flüsschen ist, bevor er im See Genezareth Kraft tankt und sich Richtung Totes Meer schlängelt. Im Osten die Golan-Höhen, im Westen die Naftali-Berge und dahinter der Libanon. Fredi lernte Sheva kennen, die beiden heirateten 1967, waren bald nicht mehr nur zu zweit.

Mit der Landwirtschaft allein konnten die Kibbuzim nicht überleben, vom Staat Israel hatte es zwar Finanzhilfen gegeben, doch nun versanken die Siedlungen in Schulden. In Kfar Blum entschied man sich, innerhalb von 23 Jahren zwei Millionen Schekel an den Staat zurückzuzahlen. Die Gemeinschaft entwickelte neue Konzepte, man war offen für moderne Ideen. Auch Fredis Ausbildung zum Elektrotechniker machte sich nun bezahlt, er entwarf eine neuartige Schalttafel, wurde zu einem Spezialisten auf seinem Gebiet. In Kfar Blum bekommen die Älteren heute eine gute Pension – das haben nicht alle Kibbuzim geschafft. Hier gibt es ein Theater, eine Volksschule, die rund 450 Kinder auch aus den umliegenden Ortschaften besuchen, ein Gymnasium mit über 1200 Schülerinnen und Schülern, ein Hotel mit Spa-Bereich und Konferenzzentrum, diverse Sportanlagen und einen Fußballplatz natürlich, auf dem an diesem Nachmittag eine Gruppe Kinder gerade dribbeln übt. Es gibt ein Unternehmen, das Kontrollprogramme für die Wasserwirtschaft entwickelt und im Sommer ein beliebtes Kammermusikfestival. Knapp 700 Menschen leben in den kleinen Häusern. Viel Grün gibt es hier und viel Ruhe. Die Jungen zieht es in die Stadt.

Seit über sechzig Jahren lebt Fredi Dagan in Israel. Mit seiner Schwester in Wien telefoniert er einmal die Woche, den Bruder, der damals, im Jahr 1939, krankheitsbedingt in Wien gelassen wurde und später zu einem Bauern in Oberösterreich in Pflege kam, hat er nur einmal gesehen. Mit seinen vier Kindern war er zur jeweiligen Bar Mitzwa in Österreich, hat ihnen gezeigt, wo er aufgewachsen ist. Er versteht sich als Israeli, doch etwas Wehmut schwappt in ihm hoch, als er sagt: „Es gab eine Zeit, da wollte ich schon zurück. Da habe ich auf Deutsch geträumt, nicht auf Hebräisch.“ Im Oktober wird er 81 Jahre alt, hier und dort zwickt es ihn, vor allem im Rücken. Doch er hat sich spezielle Schuhe für seine langen Spaziergänge durch die Siedlung gekauft und sagt: „Ich bin Realist.“ Mit dem Fußballspielen ist es zwar vorbei, aber – und da ist er wieder, dieser verschmitzte Blick: „Wenn Österreich Fußball spielt, bin ich für Österreich!“

 

Uli Jürgens – Foto: Gerald Gottlieb

 

 

Frischer Wind im Kibbuz

von Erhard Stackl

Zuletzt waren nur Abgesänge auf die Kibbuz-Bewegung zu lesen, eine der Säulen des Staates Israel, die in jüngster Zeit ins Wanken geraten war. Doch nun erleben zahlreiche Kibbuzim einen zweiten Frühling, seit sie in leeren Produktionshallen, in denen früher Fahrzeugteile oder Rohre hergestellt wurden, Platz für Start-ups geschaffen haben. Junge Erfinder erhalten in diesen Inkubatoren (wörtlich: Brutkästen) Platz, Infrastruktur und Verpflegung – und die Chance, sich auf dem Markt der Ideen zu bewähren. Der erste Kibbuz wurde 1909 am See Genezareth gegründet. Aus den damaligen Wehrsiedlungen wurden nach der Ausrufung des Staates wirtschaftlich wichtige, spartanische Gemeinschaften, die ihren Mitgliedern Sicherheit, aber kein Privateigentum boten. 270 Kibbuzim wurden seither gegründet, 130.000 Menschen leben dort.

Zitrusfrüchte und Milchkühe standen zunächst im Vordergrund. Vieles wurde inzwischen privatisiert. Nun wurden umgerechnet mehrere Millionen Euro in Start-up-Projekte gesteckt, es können nach Schätzungen 500 Millionen werden.

 

 

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