„Wiens Chance, ein globales Zentrum zu werden“

Interview

 

Mit Matti Bunzl, Auswanderer und nun Rückkehrer als neuer Direktor des Wien Museums, sprach Georg Hoffmann-Ostenhof über Österreichs Zukunft und über Gründe, zuversichtlich zu sein.

 

Georg Hoffmann-Ostenhof: Als die Waldheim-Affäre explodierte, organisierte der Republikanische Club ein großes Symposion mit dem Titel „Die österreichische Identität“. Das war der Versuch, das Land in kritischer Absicht geschichtlich zu verorten. Inzwischen glänzt der Begriff nicht mehr so, hat eine Bedeutungsverschiebung ins Negative erfahren. Eine der rechtsradikalen, rassistischen Gruppen nennt sich sogar „Die Identitären“. Was ist da passiert?

Matti Bunzl: Zunächst: Identität ist ein sehr nebulöses Konzept. Als Sozialwissenschaftler würde ich fragen: Welche Arbeit leistet dieses zu einem je bestimmten Zeitpunkt? Damals, zur Waldheim-Zeit, war es brauchbar, um alte Strukturen und Ideologien aufzubrechen. Das Ziel der Anti-Waldheim-Bewegung war es, dass Österreich seine Verantwortung übernimmt für seine Rolle im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust. Vieles von dem ist schon gelaufen. Da war die wichtige Rede Franz Vranitzkys 1991. Dann gab es den Nationalfonds und den Versuch, die Restitution auf ein anderes Niveau zu heben. Dieses Ziel ist inzwischen weitgehend erreicht.

Dabei hat sicher auch der Beitritt zur EU eine wichtige Rolle gespielt.

Gewiss, es hat eine Internationalisierung, eine Europäisierung des Landes stattgefunden. Die Dringlichkeit des Projekts von damals ist nicht mehr vorhanden. Jetzt, wo Europa in der Krise steckt, vor allem auch angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise, kann Identität was anderes bedeuten. Diese kann nun eher mit Fantasien und Wünschen aufgeladen sein, sich aus Europa zurückzuziehen. Da bedeutet Identität heute eher etwas Konservatives, Nationales.

Identität ist ja auch ein individualistisches Konzept. Sie, Herr Bunzl, haben ja, wenn man so will, eine besonders bunte und vielfältige Identität: Sie sind das Kind einer jüdischen Familie, die emigriert und wieder zurückgekehrt ist, Sie sind schwul, haben den größeren Teil ihres Lebens, vor allem Ihres erwachsenen Lebens, als Wissenschaftler in Amerika verbracht und sind jetzt nach Wien zurückgekehrt. Und Sie bezeichneten sich in einem Interview als Ur-Wiener. Wie das?

Meine Identität ist so komplex wie die aller anderen auch. Aber was ich in den USA so zu schätzen gelernt habe, ist das, was man hyphanated identity nennt – Bindestrich-Identität. Dass man eben locker Austro-Amerikaner oder jüdischer Amerikaner, schwuler, pakistanischer, säkularer Amerikaner sein kann. Das heißt nicht, dass das hier gar nicht geht. Aber „Spanisch-Österreicher“ oder „Syrisch-Österreicher“, um nur zwei Beispiele zu nehmen, geht einem hierzulande nicht so leicht über die Lippen. Aber ich bin überzeugt, dass dieser Pluralismus, der es möglich macht, die verschiedenen Identitäten zu verbinden und zu vereinigen, auch hier kommt.

Und was meinen Sie, wenn Sie sagen, Sie seien ein Ur-Wiener?

Da geht es um konkrete Assoziationen, Gefühle. Ich bin hier sozialisiert worden. Mein Horizont ist ein zutiefst mitteleuropäischer. Für mich ist eben das Verweilen in einem Kaffeehaus ein Kulturgut, das ich nicht missen will, die Lebensqualität hier in der Stadt ist letztlich tief in mir drinnen. Auch meine Identifikation mit der Geschichte dieser Stadt, vor allem mit der jüdisch-wienerischen des Fin de Siècle, mit Schnitzler, Mahler, Freud …

Wien-Museum am Karlsplatz: Wo steht die Stadt in 35 Jahren?

(Foto: Wien Museum/Hertha Hurnaus)

Nun planen Sie für die Neueröffnung des dann umgebauten Wien Museums im Jahre 2020 eine Ausstellung, die Wien 2050 behandeln soll.

Wir wollen zeigen, wo dann Wien sein kann und sein soll. Das Museum soll auch ein Laboratorium der Zivilgesellschaft sein, wo man auch mit Beteiligung der Bevölkerung Konzepte für die Zukunft der Stadt entwickelt.

Und wo sehen Sie Wien in 35 Jahren?

Schwer zu sagen. Gerade angesichts der aktuellen europäischen Krise. Aber Wien hätte tatsächlich die Chance, sich als absolutes globales Zentrum zu etablieren, durch seine hohe Lebensqualität höchstqualifizierte Leute anzuziehen und hervorzubringen, eine neue Kultur der Wissensvermittlung zu propagieren – und so zu einer weltführenden Position aufzusteigen.

Ist das nicht ein wenig sehr optimistisch?

Gewiss. Aber mein Optimismus basiert nicht zuletzt auf der demografischen Entwicklung der Stadt: Wien ist heute eine der am schnellsten wachsenden Großstädte Europas. Wir wissen, dass die Zuwanderer – seien es nun die aus den Bundesländern, die den größten Anteil der Immigranten ausmachen, oder jene aus dem Ausland – ein viel höheres Bildungsniveau haben als dies bei den Migrationswellen der Vergangenheit der Fall war. Mehr als die Hälfte haben Matura plus. Das bietet große Chancen für den Standort Wien – ökonomisch wie kulturell. Und ich hoffe, dass damit eine Pluralisierung der Vorstellung einhergeht, was Wien ist und sein kann, dass wir eben nicht in starren Vorstellungen verharren, sondern dass wir uns öffnen und die Stadtidentität flexibler sehen.

Aber hinken wir nicht in vielen gesellschaftspolitischen Bereichen dem übrigen Westeuropa hinterher? Wir haben mit der FP die stärkste rechtspopulistische Partei, wir sind in vielem konservativer als andere, auch in der Schwulenfrage.

So rückständig ist, was dies betrifft, Österreich gar nicht. Ich bin ja persönlich betroffen. Ich habe in Illinois geheiratet und mein Partner hat mit der Einwanderung hier, so wie einer in einer heterosexuellen Ehe, die Aufenthaltsbewilligung bekommen. Ich will ja nichts schönreden und natürlich muss die Ehe für alle geöffnet werden. Aber wenn man an früher denkt: Österreich hat die internationale Revolution, die in der Frage der Schwulen und Lesben stattfand, durchaus mitgemacht. Die Veränderungen sind atemberaubend.

Atemberaubend ist aber auch die Stärke des Rechtspopulismus. Man braucht nur nach zu Deutschland blicken, um den Unterschied zu sehen.

Deutschland ist aber die Ausnahme. Die Absenz einer starken Rechten sehen wir nur in Deutschland. Dort hat es viel stärker und früher als bei uns eine wirklich stringente Vergangenheitsaufarbeitung gegeben. Deutschland hat viel gründlicher die „Reeducation“ erfahren. Und vergessen Sie nicht: In Deutschland gibt es eine Protestpartei auf der Linken, die bei uns total fehlt.

Über dreißig Prozent FPÖ-Wähler, möglicherweise die stärkste Partei bei den nächsten Parlamentswahlen – ist das nicht erschreckend?

Gewiss. Aber sehen Sie, wir wissen natürlich, dass wir hier nicht dreißig Prozent Nazis haben. Die Umfragen zeigen klar: Es gibt einen harten rechtsradikalen, rassistischen Kern von etwa fünf Prozent. Diese fünf Prozent sind ziemlich konstant. Da verändert sich nicht viel. Und jetzt haben die Leute Angst. Und das ist ja nicht unverständlich. Wie leben in neoliberalen Zeiten, wo die Nationalstaaten immer weniger Macht haben und es für die Politik immer schwerer wird zu versichern, dass sie es in der Hand hat, die Leute durch das Leben zu führen, was im Sozialstaat der Nachkriegszeit der Fall war. Aber um nicht missverstanden zu werden: Ich sitze hier in großer Sorge. Aber ich muss unterscheiden zwischen mir, der die Nachrichten erschrocken sieht und sich fürchtet, und dem Sozialwissenschaftler, der die Geschichte Österreichs gut kennt und viel über Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus geforscht hat.

Und der Wissenschaftler Bunzl ist zuversichtlicher als der Staatsbürger Bunzl?

Ich glaube, dass Österreich von Amerika lernen kann. Wir wissen, dass die USA schlechte Aspekte aufweisen. Aber da gibt es doch Nachahmenswertes: In Amerika herrscht zu Recht die Mehrheitsmeinung, dass Immigration dem Land nützt.

Das ist historisch gegeben …

Auch ökonomisch. Es ist nun mal so, dass Zuwanderung eine permanente Verjüngung des Landes, viel Energie im Unternehmerischen, in der Wirtschaft, in der Kultur, wo auch immer bedeutet. Und in den USA gibt es – trotz dem jetzigen Hype um Donald Trump und seinen Tiraden gegen lateinamerikanische Einwanderung – ein tiefes Verständnis: Amerika ist so großartig, weil wir aus allen Ecken der Welt Leute bekommen haben und dadurch geworden sind, was wir sind. Wir haben das Beste von überall. Das macht uns groß.

In Österreich ist man aber noch weit davon entfernt, so zu denken.

Stimmt. Aber Wien ist ein gutes Beispiel dafür, was ich meine. Stellen Sie sich vor, Wien hätte nicht die Einwanderungswellen der letzten Jahrzehnte erlebt, die Stadt hätte jetzt 1,3 Millionen Einwohner, und die wären sehr, sehr alt. Wir gehen jetzt auf zwei Millionen zu – für 2029 ist das prognostiziert – und wir sind sehr jung. Es besteht kein Zweifel, dass diese Entwicklung ökonomisch eine gute Sache ist, Junge sind am Arbeitsmarkt, Sozialleistungen können finanziert, Pensionen gezahlt werden. Die Jungen sind dynamischer und initiativer als Ältere. Natürlich gibt es Probleme. Das soll nicht geleugnet werden. Aber ich muss wieder auf die USA verweisen. Dort hat man verstanden, dass es dem Land hilft, mit dem Rest der Welt vernetzt zu sein. Wir sind wieder bei den Bindestrich-Identitäten. Ich definiere mich als Austrian American. Nie hat mir in den USA je jemand das Gefühl gegeben, dass ich mein „Österreichertum“ zurücknehmen sollte. Es ist eine Ironie: Als ich hier aufwuchs, war ich, wie eben Kinder sind, naiv patriotisch. Während der Waldheim-Zeit ist dieses Gefühl total zerbrochen. Ich bin 1990 aus Wien weggegangen – nicht ausgewandert –, weil ich von Österreich enttäuscht war. In Amerika wurde ich dann zum Ur-Wiener und Österreicher. Weil ich in Amerika das Gefühl vermittelt bekommen habe, dass meine „Identität“ etwas Besonderes ist, dass diese als Bereicherung geschätzt wird. Auch wir werden zu einem Verständnis gelangen, dass es ein gewaltiger Vorteil ist, dass wir Leute haben, die aus Bosnien, aus der Türkei und jetzt aus Syrien kommen – nicht zuletzt deshalb, weil wir dadurch ökonomisch und kulturell Beziehungen zu diesen Ländern herstellen.

Das scheint hier doch nicht wirklich begriffen zu werden.

Die #stolzdrauf-Kampagne ging, wie immer sie auch inszeniert wurde, in diese Richtung. Allein, dass man sich diese Aktion ausgedacht hat, zeigt das. Das war ein Versuch, ein pluralistisches Bild von Österreich zu entwerfen, der Versuch, nicht die ethnische Genese, sondern die Frage, ob man sich zum Land zugehörig fühlt, als dominante Definition für Österreich zu nehmen.

Gehört zur österreichischen Identität nicht auch, im Negativen, der Antisemitismus, der offenbar nach wie vor virulent ist? Nun wird immer wieder Alarm geschlagen, dass dieser wieder im Anwachsen begriffen sei. Ist das wirklich so?

Das ist eine Definitionsfrage. Viel diskutiert wird die Frage, ob Antisemitismus und Antizionismus verwandt oder gar das Gleiche sind.

Historisch ist das sicher nicht das Gleiche.

Stimmt. Aber haben bestimmte Kritiken an Israel nicht eine antisemitische Tendenz, antisemitische Echos? Da sage ich nicht nein. Und dann muss man sehen, dass es einen quasi islamisch motivierten Antizionismus/Antisemitismus gibt. Das zu leugnen wäre fatal. Diese Spielart kann auch, wie wir wissen, sehr gewaltsam sein – etwa in Frankreich, Dänemark und Holland. Es wäre aber auch ein analytisch großer Fehler anzunehmen, dass der Antisemitismus eine Universale ist, eine historische Konstante – wenn man sich nicht überlegt, welche Formen von Antisemitismus wann und unter welchen Umständen auftreten. Der moderne europäische Antisemitismus, der ja aus der Moderne des 19. Jahrhunderts stammt, als das Wort kreiert wurde als Kampfruf gegen die vermeintliche Unterminierung der Gesellschaft durch die Juden – dieser Antisemitismus ist stark zurückgegangen. Das zeigen nicht nur Umfragen. Das sieht man am besten an der extremen Rechten wie etwa dem Front National der Frau Le Pen oder der FPÖ, Bewegungen, die aus Strukturen kommen, die antisemitisch waren, bei denen Antisemitismus einen wesentlichen Teil ihrer politischen Identität ausmachte. Diese extreme Rechte ist heute nicht mehr antisemitisch.

Weil sie damit politisch nicht mehr punkten kann?

Es stellt sich natürlich die Frage, ob die genuin nicht mehr antisemitisch sind oder ob es nur keinen politischen Sinn mehr macht, antijüdisch zu agieren. Das muss man genau analysieren. Aber ich glaube, dass das Projekt der Rechten ein anderes geworden ist.

Bei dem der Antisemitismus nicht mehr identitätsstiftend ist?

Ja. Da ist vielleicht Ungarn eine Ausnahme.

Der Andere ist nun der Muslim. Könnte aber der Antisemitismus junger Muslime in Europa nicht wieder den alten europäischen erneut beflügeln, quasi auf diesen überspringen?

Möglich ist alles. Glaube ich aber nicht. Das sind zwei unterschiedliche Projekte. Der europäische Antisemitismus hatte das Ziel, Europa zu homogenisieren. Der sieht im Juden das Nichteuropäische. Der islamistische Antisemitismus versteht ganz im Gegenteil den Juden als Vertreter Europas – weil ja Israel als eine europäische Kolonialmacht in Nahost interpretiert wird. Ihm geht es darum, das Europäische im Juden anzuprangern. Von der Auswirkung mag dies dasselbe sein. Dem Opfer ist es ja egal, aus welchem Grund es eine über den Kopf kriegt. Aber die Logiken dieser beiden Antisemitismen sind geradezu gegensätzlich.

 

Zur Person:

Matti Bunzl übernahm im Oktober 2015 von Wolfgang Kos die Direktion des Wien Museums. Er wurde 1971 als Sohn des Politologen und Nahostexperten John Bunzl in Wien geboren, wo er auch aufwuchs und die Schule besuchte. 1990 ging er in die USA, wo er an der Stanford University und an der University of Chicago studierte. Er promovierte1998. Mehrere Jahre lehrte er an der University of Illinois Sozialanthropologie. Seit 2008 war er Inhaber eines eigenen Lehrstuhls. Seit 2010 leitete Bunzl als Intendant das „Chicago Humanities Festival“. Bunzl forschte, lehrte und publizierte bisher zu den Themen Judentum, Antisemitismus und Islamophobie, aber auch zu theoretischen Fragen der Kunstvermittlung.

 

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