Vorwort von Chefredakteur Erhard Stackl
Als Bewunderer von Astrid Lindgren, deren Geschichten ich als Kind liebte und deren humanistische Einstellung ich immer schätzte, las ich kürzlich ein Buch, das posthum ‒ dreizehn Jahre nach ihrem Tod im Jahr 2002 ‒ erschienen ist: „Die Menschheit hat den Verstand verloren“. Unter diesem Titel kamen die Tagebücher heraus, die Lindgren in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 verfasst hat.
Mitten aus dem Geschehen heraus, wie es sich aus der Perspektive des vom Krieg umtosten Schweden darstellte, versuchte sie, die täglichen Schreckensmeldungen festzuhalten und zu bewerten. Schon 1940 erwähnt sie Konzentrationslager, ab 1941 kommt sie immer wieder auf die Verfolgung der „armen Juden“ zu sprechen.
1943 schreibt sie bewundernd über die Haltung des dänischen Königs Christian X. angesichts der deutschen Besatzung seines Landes. Dieser weigerte sich, auf seinem Schloss die Hakenkreuzfahne zu hissen, und soll die Nazis von der Einführung des „Judensterns“ in Dänemark mit der Ankündigung abgehalten haben, er werde ihn als Erster tragen.
Dennoch muss Lindgren am 3. Oktober 1943 notieren, dass „in Dänemark die Deutschen jetzt mit den Judenverfolgungen begonnen“ haben. Zu Tausenden retteten sich dänische Juden, von Landsleuten unterstützt, über den Öresund. Über die Reaktionen auf der anderen Seite der Meerenge schrieb Lindgren: „Die schwedischen Antisemiten hetzen, so gut sie können, und verschicken Flugblätter, in denen sie die Flüchtlinge als eine Schar von Mördern und Vergewaltigern darstellen.“
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Im Sommer 2016 stellte ein jüngerer ORF-Journalist einem Politiker die Frage, ob die gegenwärtige Flüchtlingskrise nicht außerordentliche Maßnahmen erfordere, weil es eine derartige Situation „bei uns noch nie gegeben“ habe. Zum Füllen seiner Bildungslücken werden wir ihm gern ein Exemplar dieser Ausgabe des „Jüdischen Echos“ schicken. Denn auf den folgenden Seiten kommen Menschen zu Wort – Juden und Nicht-Juden –, die selbst Flucht und Verfolgung erlitten haben, aber auch solche, die sich in der aktuellen Situation aktiv einmischen und Flüchtlingen helfen. Neue Ausdrucksformen des Hasses, etwa im Internet, und reale Bedrohungen durch den Terror werden ebenfalls beleuchtet.
Besonders freut es uns, dass zur religiösen Bewertung der drängenden Fragen Arie Folger, der neue Oberrabbiner von Wien, für unsere Zeitschrift einen Beitrag verfasst hat, wie dies auch sein Vorgänger Paul Chaim Eisenberg regelmäßig tat.
Zur wissenschaftlichen Analyse der Thematik zwischen Fluchthilfe und Schlepperei, Rettung und Ausbeutung schreibt u. a. die Historikerin Gabriele Anderl. Sie erhielt heuer den Preis für Dialog und Verständigung der Stadt Wien, der jedes Jahr in Erinnerung an Leon Zelman s. A. verliehen wird. Anderl und weitere renommierte Autorinnen und Autoren untersuchen auch Parallelen zwischen den brutalen Geschehnissen um 1938 sowie der Situation nach 1945, als hunderttausende „Displaced Persons“ durch Europa und durch Österreich irrten, mit den Flüchtlingsbewegungen von heute – ohne in den Fehler einer simplen Gleichsetzung zu verfallen.