Interview „Mit der Ambivalenz leben lernen“
Mit der Filmemacherin und Autorin Ruth Beckermann sprach Erhard Stackl über Veränderungen und Konstanten des jüdischen Lebens in Wien.
Erhard Stackl: Frau Beckermann, Sie haben sich in Ihren Filmen und Büchern seit etlichen Jahren mit dem Thema Identität befasst. Man könnte Sie als Seismograf des jüdischen Lebens in Österreich bezeichnen. Ich denke da z.B. an das Buch „Unzugehörig“, das zuerst 1989 und dann, zu Zeiten der schwarz-blauen Regierung, noch einmal herausgekommen ist. Darin beschreiben Sie die unmittelbare Nachkriegszeit und den demütigenden Umgang Österreichs mit den Opfern, die den Nationalsozialismus gerade knapp überlebt hatten. Inzwischen hat sich – in einer Auf-und-ab-Bewegung – in Österreich enorm viel geändert, auch zum Positiven. Doch gegenwärtig erhebt sich wieder die Frage: In welche Richtung geht es weiter?
Ruth Beckermann: Man hat ja immer eine subjektive Sicht. Am meisten spürt man von einem Land, solange man in die Schule geht oder studiert. Später kann man die Menschen, mit denen man zusammenkommt, weitgehend selber aussuchen. In meinem Umfeld spüre ich nicht, dass sich etwas zum Negativen verändert hätte. Für mein Leben gab es die große Veränderung durch die Waldheim-Affäre, als endlich ein Tabu gefallen ist. Davor hätte ich mich gar nicht getraut, dieses Buch zu schreiben. Mein Film „Die papierene Brücke“ wurde vor der Waldheim-Affäre begonnen und kam 1987 heraus. Damals ist es mir wahnsinnig schwergefallen, die Angst zu überwinden und mich der Öffentlichkeit zu stellen – als Jüdin.
Das war sehr schwierig und ich muss sagen, dass diese Ambivalenz geblieben ist. Da kann sich hier vieles zum Positiven ändern, aber die Vorsicht, ob das auch hält, die bleibt. Es wird einem ja auch immer wieder bewiesen, wie dünn der Zuckerguss ist – siehe die „Affäre Adele“ (um die Rückgabe des Klimt-Bildes der Adele Bloch-Bauer an deren Erben durch die Republik Österreich – Anm.). Etwa, wie sich dieses Österreich verhalten hat, als das Bild vor fast zehn Jahren zurückgegeben werden musste: In dem Moment, da es um etwas Wichtiges geht, kommt alles wieder hoch.
Diese Restitutionsfälle hatten auch zur Folge, dass viele glauben, alle Juden wären Großbürger und kommen aus reichen Familien. Auch bei mir glaubt man immer, dass ich aus so einer Familie komme, dabei war mein Vater ein Flüchtling und auch meine Mutter hatte gar nichts. Schon die Großväter hatten nichts. Der eine war Schuster im zweiten Bezirk und der andere Pferdehändler in Czernowitz. Und trotzdem zeigen sich viele erstaunt, dass ich nicht aus der Familie Bloch-Bauer stamme.
Bis in die 1970er-Jahre war an den Schulen und beim Studium die jüdische Identität weitgehend etwas Unsichtbares, sie galt als Privatsache. Heute ist Österreich viel internationaler geworden, in den Schulen gibt es Kinder mit den unterschiedlichsten ethnischen und religiösen Backgrounds …
Da hat sich vieles zum Vorteil verändert, ganz klar. Früher hat meine Mutter, wenn ich mit jüdischen Freundinnen und Freunden im Kaffeehaus saß, immer gewarnt: Redet nicht so laut, damit die anderen nicht hören, wer wir sind. Der Antisemitismus war spürbar in meiner Kindheit; man hat gewissermaßen in einer Ghettosituation gelebt.
Dieser Antisemitismus wurde in manchen Familien aber kaum thematisiert …
Man hat den Eltern nichts davon erzählt, wenn man z.B. in der Schule „Saujüdin“ geschimpft wurde; man hat sich selbst dagegen gewehrt. Die Eltern waren mit dem Aufbau ihres Lebens beschäftigt. Wien war ohnehin als Provisorium gedacht. Die meisten meiner Kindheitsfreunde leben heute in den USA oder in Kanada, in Israel oder sonst wo.
Hat sich diese Einstellung irgendwann geändert?
Für meine Eltern hat sie sich geändert, sobald sie hier Fuß gefasst haben. Aber der Spirit war: Die Kinder sollen weg. Und das haben viele nach der Matura oder nach dem Studium auch getan.
Hrdlickas Mahnmal, um feixende Wiener ergänzt.
(Foto: Ruth Beckermann 2015)
Was die sogenannte Vergangenheitsbewältigung betrifft, so scheinen die Diskussionen und Reflexionen während und nach der Waldheim-Affäre doch einiges bewirkt zu haben. Wenn man das Beispiel der Burgtheater-Produktion „Die letzten Zeugen“ nimmt (für die der Autor Doron Rabinovici und der Theatermacher Matthias Hartmann Überlebende der Judenverfolgungen der Nazizeit auf die Bühne gebeten haben, siehe „JE“ Vol. 63), da sind die Besucher am Schluss spontan aufgesprungen, es gab minutenlange Standing Ovations und anschließend noch lange Publikumsdiskussionen. Die Leute wollten gar nicht weggehen.
Natürlich hat sich etwas geändert. Es ist ja immer so: Es gibt eine Phase des Aufbruchs und des gefährlichen Tabubruchs. Das war die Zeit ab Mitte der 1980er-Jahre und dann die 1990er-Jahre, als Schritte gesetzt wurden, um mit der Vergangenheit anders umzugehen – wie die Vranitzky-Rede 1991 (als der damalige Bundeskanzler im Parlament sagte: „Viele Österreicher waren an den Unterdrückungsmaßnahmen und Verfolgungen des ,Dritten Reichs‘ beteiligt, zum Teil an prominenter Stelle.“ – Anm.). Dann war diese Phase irgendwann abgeschlossen und irgendwann wurde diese Haltung eher zu einer allgemeinen. Man kann heute sagen, die österreichische Haltung ist im Großen und Ganzen die: Wir waren mitbeteiligt und mitschuldig am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen.
Und dann wird das Gedenken in den meisten Fällen zu etwas Ritualisiertem – und verliert damit seine Sprengkraft. Das ist ein normaler Vorgang. Wenn man das z.B. mit der Sklaverei in Amerika vergleicht, dann ist es heute Common Sense, dass das schrecklich war und die Weißen daran Schuld trugen. Doch dann gibt es Momente, wo dieses Thema doch wieder brisant wird, wie jetzt bei der Diskussion um die Verwendung der Südstaatenfahne in den USA. Oder wie beim Fall Adele. Ich glaube, man muss beim Thema Schoah immer wieder versuchen, den brisanten Punkt zu finden und erneut ein Tabu zu brechen. Derzeit macht das z.B. Klaus Taschwer mit seinem Buch über den „hausgemachten“, frühen Antisemitismus an der Wiener Universität („Hochburg des Antisemitismus“, Czernin-Verlag 2015).
Oder wie ich es versucht habe, in meiner Installation zu zeigen: Diese sogenannten „Reibpartien“ (nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi- Deutschland im März 1938 – Anm.) waren von niemandem befohlen, das war der Wiener Antisemitismus in seiner ganzen „Pracht“, ironisch gesagt. Man muss immer wieder versuchen, schräg zu denken und hineinzustechen. In all meinen Arbeiten versuche ich das in gewisser Weise. Damit macht man sich als Künstlerin und Filmschaffende natürlich nicht beliebt, auch nicht in der eigenen Gruppe.
Wenn ich an meinen Film „Zorros Bar Mizwa“ denke, wo ich versucht habe, einen Zusammenhang zwischen Religion, Jugendkultur, ja Popkultur zu zeigen – da haben wir gedacht, dieser Film wird bei allen jüdischen Filmfestivals, von denen es hunderte gibt, gezeigt werden. Das war nicht der Fall. In den jüdischen Gemeinden haben inzwischen die Konservativen die Oberhand. Man hat gesagt, in diesem Film werde die Bar Mizwa als religiöser Akt nicht ernst genommen. Wenn man die Sachen schräg sieht, wird man in der eigenen Community und in der Mehrheitscommunity marginalisiert. Das finde ich aber ganz wichtig – ich bestehe auf dieser Position. Ich klage nicht darüber, sondern glaube, dass man als Autorin oder Künstlerin diese Position einnehmen muss, um einen frischen Blick auf die Gesellschaft zu haben.
Ich finde „Zorros Bar Mizwa“ auch aus einem anderen Grund bemerkenswert: Dieser Film blickt nicht zurück, sondern betrifft das jüdische Leben heute. Handelt er nicht von jungen Leuten, denen es auch um Repräsentation geht – darum, wer man gern wäre?
Ja, es ist ein Film über Repräsentation.
Der im Film gezeigte Videomacher gibt ihnen die Chance zu sein, wer sie möchten, Barbie oder wer auch immer.
Genau. Ich hatte mich mit der Vergangenheit schon lange genug beschäftigt. Ich fand es spannend, dass diese Jungen anders sind. Sie spüren weniger die Last der Geschichte und sie haben die Möglichkeit, Fantasien über ihre Identität zu entwickeln.
Es ist aber keine große Diskussion darum entstanden?
Die hiesige Kultusgemeinde hat den Film sicher auch ganz nett gefunden, aber es gab keine offizielle Reaktion, nicht mal eine Einladung, den Film im Gemeindezentrum zu zeigen. Meine Filme sind, wie Sie das gesagt haben, auch eine Geschichte dieser Gemeinde. Aber an Anerkennung habe ich dafür null bekommen.
Die neueren Arbeiten betreffen jedenfalls die Phase des Angekommenseins, nicht mehr jene des permanenten „Auf-den-Koffern-Sitzens“.
Ja, natürlich, ganz klar. Das Angekommensein hat sich schon in meiner Generation abgezeichnet. Durch das Gründen jüdischer Schulen und diverser anderer Institutionen. In dem Moment, in dem man ein Museum fordert oder Kindergärten, hat man die Absicht, seine Kinder hier aufzuziehen. Das wurde schon in der Ära von Ariel Muzicant (IKG-Präsident von1998 bis 2012 – Anm.) in großem Stil betrieben. Das ist eine Entscheidung von Teilen meiner Generation und der darauffolgenden gewesen.
Zur Identität gehört ja nicht nur, was man selbst denkt, sondern auch, was andere von einem denken. Was Ihre Generation betrifft, so habe ich den Eindruck, dass es da eine Phase gab, in der jüngere Menschen aus jüdischen Familien von ihrer nicht-jüdischen Umgebung veranlasst wurde, sich mit ihren Wurzeln auseinanderzusetzen. Das war während des sogenannten „Libanon-Feldzugs“ von 1982, als es in Österreich eine scharf Israel-kritische Welle gab. Plötzlich hatten jüngere Jüdinnen und Juden, die gar keine IKG-Mitglieder waren, das Bedürfnis, mit Menschen in ähnlicher Lage in einem Lokal im zweiten Wiener Bezirk zusammenzukommen und ihre Situation zu diskutieren: „Ich werde von meiner Umgebung immer blöd angeredet, geht es dir auch so …“ Manche von ihnen, so scheint es, haben eben aufgrund der Umweltreaktionen ihre jüdische Identität entdeckt.
Es ging darum, kritisch gegenüber der Politik Israels sein zu dürfen, aber zugleich diesen ins Antisemitische gehenden „Antizionismus“ zurückzuweisen. Man hat für sich selber eine Haltung gesucht und wollte sie mit einer Gruppe von Gleichgesinnten besprechen. Diese war kritisch gegenüber der Kultusgemeinde, aber auch gegenüber der Öffentlichkeit insgesamt, die damals – vor der Waldheim-Affäre – für Österreichs Vergangenheit blind war.
Ich erinnere mich an eine Demonstration, die für mich ein entscheidendes Erlebnis war: Es ging gegen den Libanon-Krieg, man ist durch die Stadt zum Stephansplatz gezogen, und plötzlich hat jemand zu rufen begonnen: „Nazis raus aus dem Libanon.“ Ich war damals erstaunlich mutig und bin zum Wagen der Organisatoren gegangen. Peter Kreisky stand dort, und ich habe ihm gesagt, ich möchte in das Megafon sprechen. Ich habe erklärt, dass ich da nicht mitkann, und habe versucht klarzumachen, was das Gesagte bedeutet. Das war für mich ein entscheidender Punkt, an dem ich gemerkt habe, mit dieser Linken kann ich nicht mitmachen. Da bin ich auch wieder eine Außenseiterin – ich bin überall eine. Inzwischen habe ich gelernt, damit zu leben.
„Déjà vu“: Temporäre Videoinstallation mit Flüchtlingen und deren Feinden von heute.
(Foto: Ruth Beckermann 2015)
Die Hauptströmung der europäischen Linken ist ja bis zum heutigen Tag pro-palästinensisch und pro-arabisch, zu der nun die stärker werdenden islamischen Stimmen kommen. Manchen gelten sie insgesamt als „antisemitisch“, aber das ist wohl eine Definitionsfrage. Gleichzeitig gibt es in der Bevölkerung eine Hasswelle gegen Muslime und vor allem gegen muslimische Flüchtlinge – das wären alles Terroristen, die zu Hause bleiben sollen. Das ist eine merkwürdige Gemengelage, in der es gar nicht so einfach zu sein scheint, eine eigene Position zu beziehen und durchzuhalten.
Heutzutage ist gar nichts mehr einfach, weil man ja auch nicht nur lokal in Österreich Positionen bezieht. Das hat Vor- und Nachteile. Einerseits ist Österreich nicht mehr dieses provinzielle Land, das sich alles erlauben kann, seit wir in der EU sind. Andererseits ist dieses Europa nicht das, was ich mir gewünscht habe. Über Schwarz-Blau hat man sich noch aufgeregt, über Viktor Orbán (den rechtsnational und flüchtlingsfeindlich agierenden ungarischen Premier – Anm.) regt sich keiner auf.
Sie haben einmal gesagt, „jüdisches Leben ist an sich überregional“.
Ja. Das sieht man auch in „Zorros Bar Mizwa“ – da sind auch in Wien lebende Georgier und Israelis drin. Heute muss man sich nicht entscheiden, in Österreich zu leben oder woanders. Die Leute arbeiten einmal dort und einmal da. Sie müssen sich nicht mehr so mit der nationalen Identität auseinandersetzen, wie wir das mussten. Das hat natürlich auch Nachteile, weil man sich in einer globalen Welt lokal weniger engagieren kann.
In einem Interview haben Sie eine „übertriebene Betonung“ der Identität kritisiert. Wie war das gemeint?
Es gibt immer eine Aufbruchsphase, wenn ein Thema wichtig wird, weil es Probleme berührt, die man bisher nicht benannt hat. So war das in den 1980er-Jahren, nach der Phase der Linken, die meinte, wir seien alle gleich und wir könnten die Welt gemeinsam verändern. Danach sind wir draufgekommen, dass es Unterschiede gibt, die wir benennen müssen – ob man jetzt Jude ist oder schwul … Das war eine wichtige Zeit. Und dann hat das meiner Meinung nach total umgeschlagen. Heute gibt es überhaupt keine gemeinsamen politischen Projekte, die Welt oder unsere Umgebung zu verändern, sondern alles ist Identitätspolitik. Die Juden haben ihre Anliegen, die Schwulen, die Veganer, die Radfahrer … Die heute Dreißigjährigen sitzen herum und reden darüber, wo es das beste Bio-Essen für ihre Kinder gibt, kaum einer diskutiert über Syriza (die griechische Linksregierung – Anm.), kaum einer fragt, wie kann man sich politisch engagieren, wo kann man etwas grundlegend verändern.
In vielen Ländern, beunruhigenderweise auch in Deutschland, schließen sich rechtsnationale Kräfte zusammen, Stichwort „Pegida“, es gibt Übergriffe auf Flüchtlinge, auf Ausländer überhaupt.
Auch das kommt aus der Identitätspolitik, auf der Rechten oder in Minigruppen, das ist sehr gefährlich. Als Resultat der Globalisierung gibt es keine neuen Formen des Engagements, man hat sie noch nicht gefunden. Deshalb finde ich diese neuen Bewegungen, wie Syriza, Podemos in Spanien oder Jeremy Corbyn in England, so interessant.
Nochmals zur vorhin beschriebenen Gemengelage, speziell was Muslime in Österreich und die antimuslimische Stimmung betrifft: Da haben Sie ja heuer in einer öffentlichen Installation eine Verbindung zur österreichischen Vergangenheit hergestellt. Es scheint mir ja schon an sich kein Zufall zu sein, dass Sie das Projekt „The Missing Image“ gerade heuer realisiert haben. Denn Ihren Ärger über den „straßenwaschenden Juden“ habe Sie ja schon im Buch „Unzugehörig“ ausgedrückt, kurz nachdem Alfred Hrdlickas „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ auf dem Wiener Albertinaplatz aufgestellt worden war. Dazu haben Sie das Mahnmal heuer durch eine Videoinstallation „ergänzt“ und zeigten das Gegenbild der grinsenden, feixenden Wiener, die den straßenwaschenden Juden zuschauten. Getoppt haben Sie diese Intervention im Juni 2015 dann noch mit einer Verfremdung, einem ganz aktuellen künstlerischen Kommentar zu heutigen Zuständen unter dem Titel „Déjà vu“.
Da gab es diese Aufnahme des „Kurier“-Fotografen Jürg Christandl, auf der man heutige Gesichter von Wienern sieht, die genauso dreinschauen wie die damals und den Flüchtlingen ihre Ablehnung ins Gesicht schleudern. Auf demselben Bild, aus einer Perspektive wie der des auf der Straße kauernden Juden – zwei Flüchtlinge mit einem Kind. Da habe ich mir gedacht, manchmal muss man den Holzhammer verwenden, und dieses Foto animiert und mit den Grinsern aus dem Jahr 1938 in Beziehung gesetzt. Mir geht es in meinen Arbeiten ja immer um die Gegenwart, nicht um ein Lehrbuch der Geschichte. Auch das „Missing Image“ sollte ja dazu anregen, darüber nachzudenken, was es heute heißt, Menschen zu demütigen.
Was heute geschieht, ist natürlich nicht das Gleiche – aber vom Spirit her entspricht es dieser Haltung. Das ist für mich das böse, schwarze Wien, von dem ich jede Nuance kenne. Ich sage das schon am Schluss meines Films „Die papierene Brücke“ – wenn du weggehst, wirst du die Nuancen nirgendwo so genau kennen wie in dieser Stadt. Ich habe lang genug in Frankreich gelebt, dort gibt es auch Antisemitismus. Ich habe manchmal Sachen gehört, von denen mir nicht ganz klar war, was sie bedeuten. Hier spüre ich auch, was gemeint ist, wenn nichts gesagt wird. Das ist auch eine Art von Zugehörigkeit, eine unzugehörige. Man muss mit dieser Ambivalenz leben lernen.
Die Wiener Eigenschaft der „uneigennützigen Gemeinheit“, die manchmal durchaus auch eigennützig sein kann …
Auch wenn es nur kleine Sachen sind. „Da hab ich noch den Leuchter oder das Silberschüsserl …“ Kleine Grauslichkeiten.
Es ging bei den „Arisierungen“ nicht immer um die „Adele“.
Das war ja auch eine Wiener „Spezialität“: Es gab im Prater eine Art Flohmarkt, auch für Tassen und Löfferl und solche Sachen. Da konnten die Wiener hingehen und das „Zeug“ der Juden kaufen. Jedem war klar, woher das kommt. Das war auch so eine Wiener Geschichte.
Diese Form von Bösartigkeit ist eine Konstante?
Ja.
Dann erhebt sich aber die Frage: Wie bewertet man das? Es gibt angesichts der aktuellen Entwicklungen in Wien schon auch wieder jüdische Familien, in denen man sich fragt, ob die eigenen Kinder hier eine Zukunft haben werden.
Juden wird es immer auch betreffen, denn Juden sind in Europa die klassischen „Anderen“. Aber vorrangig betrifft es heute andere Gruppen. Ich halte es für sinnlos, Angst zu haben. Ich bin da sehr fatalistisch, denn Terrorakte gibt es überall. Dass Juden da ein bevorzugtes Ziel sind, hat man leider in Frankreich in den letzten Jahren immer wieder gesehen. Aber es ist unnötig, in Hysterie zu verfallen. Juden sind ein mobiles Volk und die Gründe, warum sie von einem Ort zu anderen wandern, sind vielfältig. Das einfach auf Antisemitismus zurückzuführen, halte ich für Propaganda. Es gibt genug wirtschaftliche Gründe. Und es gibt auch Juden, die nach Polen, nach Moskau oder nach Berlin ziehen. Das ist ja das Schöne an uns Juden, dass wir sehr mobil sind.
Zur Person:
Ruth Beckermann ist 1952 in Wien geboren, wo sie auch ihre Kindheit verbrachte. Nach dem Studium der Publizistik und Kunstgeschichte und Studienaufenthalten in Tel Aviv und New York promovierte sie 1977 an der Universität Wien zum Dr. phil. Sie arbeitete als Journalistin für mehrere Zeitschriften in Österreich und der Schweiz. 1978 gründete sie mit zwei Kollegen den Verleih filmladen, wo sie sieben Jahre tätig war. Seit 1985 arbeitet sie als freie Autorin und Filmschaffende. Einige ihrer Filme: „Wien retour“ (1983), „Die papierene Brücke“ (1987), „Nach Jerusalem“ (1990), „Jenseits des Krieges“ (1996), „Zorros Bar Mizwa“ (2006), „Those Who Go Those Who Stay“ (2013). Zu ihren Büchern zählen „Die Mazzesinsel – Juden in der Wiener Leopoldstadt 1918–38“ (1984) und „Unzugehörig – Österreicher und Juden nach 1945“ (1989, beide im Löcker Verlag erschienen). Derzeit arbeitet Ruth Beckermann am Projekt „In Ägypten“, einem Film über Liebe und Flucht, der auf dem Briefwechsel von Ingeborg Bachmann und Paul Celan basiert.