Eine Stadt ohne Gedächtnis von Gabriele Lesser

Białystok im Nordosten Polens war einst eine jüdische Stadt, in der auch katholische Polen lebten sowie orthodoxe Weißrussen, protestantische Deutsche und muslimische Tataren. Das Erinnern fällt schwer.

Schon von weitem ist die Hymne auf das jüdische Białystok zu hören. Doch sie kommt nicht laut daher, fröhlich oder feierlich, sondern melancholisch und wie aus einer anderen Welt: „Białystok, mein Heim, Białystok, mein Traum. Wie könnt’ ich je vergessen mein geliebtes Haus? Wie könnt’ ich je vergessen, woher ich stamm’.“ 1943 komponierte Jeremiah Ciganeri das Lied im argentinischen Exil, und Abraham Szewach schrieb den eingängigen Text dazu. Sie ahnten, dass die jüdischste aller Städte Polens nie wieder so sein würde wie vor dem Zweiten Weltkrieg.

Wenn, wie seit ein paar Jahren, am 16. August an den Ghettoaufstand von Białystok erinnert wird, dem zweitgrößten nach dem Warschauer Ghettoaufstand, scheint der Wind die Melodie weiterzutragen in den Park, die Stadt, die ganze Welt. Vor dem Denkmal der Ghettohelden am Mordechaj-Tenenbaum-Platz hingegen beginnt das militärische Zeremoniell – laut und zackig. Ein seltsamer Kontrast.

Białystok, in dem vor dem Krieg Juden die Mehrheit der Bevölkerung stellten, gilt heute als eine „Stadt ohne Gedächtnis“. Erst 2014 stellte die Stadtverwaltung Informationstafeln am Zentralpark auf: „Dies ist der älteste jüdische Friedhof der Stadt.“ Rund fünf Meter unter den Füßen der Spaziergänger und spielenden Kinder liegen die Toten bis heute, stehen die Grabsteine, zugeschüttet in den Fünfzigerjahren. Vor kurzem forderte der damals verantwortliche Stadtarchitekt, den jüdischen Friedhof wieder auszugraben. Es sei nun an der Zeit. Es drohe ihm keine Zerstörung mehr. Doch der grüne Zentralpark ist aus der Topografie der Stadt nicht mehr wegzudenken. Hier stehen auch die moderne Oper und das in ganz Polen renommierte Puppentheater. Das Projekt eines „Katakomben-Friedhofs“ mit künstlicher Beleuchtung tief unter dem Park lehnte Polens orthodoxer Oberrabbiner Michael Schudrich ab. Ein Katakomben-Friedhof, wie ihn die ersten Christen im alten Rom anlegten, sei unvereinbar mit dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha.

Rafał Rudnicki, der stellvertretende Oberbürgermeister von Białystok, hält die erste Rede auf der Gedenkfeier im August. Er ist in der knapp 300.000 Einwohner zählenden Hauptstadt Podlachiens nahe der Grenze zu Weißrussland für Minderheitenfragen zuständig. „Diese Gedenkfeiern beweisen“, so Rudnicki, „dass wir daran erinnern, was sich vor dreiundsiebzig Jahren in unserer Stadt zugetragen hat. Wir erinnern, wer über Jahrzehnte die Geschichte von Białystok gestaltet hat. In unserer Gesellschaft gibt es auch Menschen, die die Erinnerung daran gerne ausradieren würden. Darin ähneln sie den Verbrechern der beiden totalitären Regime des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Doch dies wird ihnen nicht gelingen“, versichert Rudnicki. „Białystok wurde zu dem, was es heute ist, durch das Mitwirken vieler Nationen, Kulturen und Religionen. Das werden wir nie vergessen.“

Polens starker Mann Jarosław Kaczyński: Kam nach der offiziellen Feier zum Gedenken

Foto: cc by-sa 3.0 Pl / Wikipedia

 

 

Die zweihundert, höchstens dreihundert Gäste der kleinen Gedenkfeier, darunter viele aus dem Ausland, wissen, warum sich Rudnicki so vehement für das Erinnern einsetzt. Sie kennen die über Jahrzehnte verleugnete Geschichte der Stadt und wissen die Anstrengung der Stadtpolitiker zum „Neu-Erinnern“ zu schätzen.

Aufmärsche von Rechtsradikalen, Hakenkreuzschmierereien, Ritualmordlegenden, antisemitische Hasspredigten, Brandstiftungen aus Ausländerhass – das alles fand in den letzten Jahren den Weg in die Schlagzeilen der Weltpresse. Białystok brachte es den schmählichen Ruf der „Hauptstadt des Rassismus“ ein. Lange blieb die Geschichtsvergessenheit der „im Osten aufgehenden Stadt“, wie sich Białystok gerne nennt, von der Welt unbemerkt. Doch dann bezeichnete ein Staatsanwalt das Hakenkreuz als ein „Symbol des Glücks“, das nicht unbedingt im Kontext der nationalsozialistischen Ideologie zu verstehen sei.

„Denkmal der Helden der Białystoker Erde“: Auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs errichtet

Foto: Gabriele Lesser

 

 

Als der Theaterregisseur Rafał Gaweł die Begründung publik machte, mit der die Białystoker Staatsanwaltschaft es ablehnte, Ermittlungen wegen rassistischer Schmierereien aufzunehmen, geriet die Stadt in den Fokus der Weltpresse. War Białystok nicht die Stadt des Ludwik Zamenhof, der die Kunstsprache Esperanto erfunden hatte? Wie war es möglich, dass in einem Land, in dem die Nazis knapp sechs Millionen Menschen ermordet hatten, jemand das Hakenkreuz als ein „Glückssymbol“ bezeichnen konnte?

Der Ton auf der Gedenkfeier wird ein anderer, als Bohdan Paszkowski, der Woiwode von Podlachien, das Wort ergreift. Der Politiker der rechtspopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) konzentriert sich in seiner Rede auf die Deutschen als Täter. „Wir sind uns bewusst, dass der Aufstand eine Folge der deutschen Besatzung und des Untergangs des polnischen Staates war. Das war eine Entscheidung, die an der Spitze der deutschen Regierung gefällt wurde. Wir werden unsere Innen- und Außenpolitik so ausrichten, dass es nie wieder zu einem ähnlichen Ereignis auf der Welt kommen wird.“ Die Ethnisierung der Täter – Deutsche, Russen, Ukrainer – gehört zur intensiv betriebenen Geschichtspolitik der seit Oktober 2015 mit absoluter Mehrheit regierenden PiS.

Schon zwei Monate zuvor hatte Jarosław Kaczyński, der PiS-Parteivorsitzende, in Białystok erklärt: „Die deutschen Soldaten haben am 27. Juni 1941 ein monströses Verbrechen in Białystok begangen. … Sie verbrannten rund tausend Juden bei lebendigem Leib in der Synagoge. Wir müssen auch deshalb daran erinnern, um alle Fragen zu Verantwortung und Schuld richtig adressieren zu können. Das war der deutsche Staat und das deutsche Volk, das Adolf Hitler unterstützte.“ Dass Kaczyński zur Gedenkfeier für die in der Synagoge verbrannten Juden erst kam, als diese schon vorbei war, erwähnte das PiS-Staatsfernsehen nicht. Vielmehr wirkte der Bericht, als habe Kaczyński während der Gedenkfeier vor dem Synagogen-Mahnmal einen Kranz niedergelegt und dann eine Rede gehalten. Da er in dieser aber vor allem die Europäische Kommission kritisierte und den Präsidenten des Europäischen Rats und Ex-Premier Polens Donald Tusk dafür verantwortlich machte, dass die Briten für den Brexit gestimmt hatten, wäre er möglicherweise von den Teilnehmern der Gedenkfeier ausgebuht worden. So warteten er und das TVP-Fernsehteam, bis niemand von den Białystokern mehr da war.

In seiner geschichtspolitischen Ansprache beruhigte Kaczyński die Zuschauer vor den Fernsehbildschirmen dann, dass die Deutschen auch die Schuld für die zum Teil „schändlichen und verbrecherischen“ Taten der Polen tragen müssten. Denn ohne den Überfall der Deutschen auf Polen hätte es diese Taten nie gegeben. Die Schuld der Deutschen sei eindeutig und unteilbar. Die Worte Kaczyńskis in Białystok zielten auf die Themen „gesellschaftliche Kollaboration von Polen mit den deutschen Besatzern und Pogrome katholischer Polen an ihren jüdischen Nachbarn“. Relativiert werden soll die Schuld derjenigen Polen, die sich 1941 an rund siebzig Pogromen gegen Juden beteiligten.

Das bekannteste ist das Pogrom von Jedwabne, als christliche Polen fast alle ihre jüdischen Nachbarn ermordeten, um sich deren Besitz aneignen zu können. Auch in Białystok erhielten Polen, die mit den deutschen Besatzern zusammenarbeiteten, die Wohnungen und Häuser ihrer jüdischen Nachbarn. Viele Białystoker wohnen bis heute in den einst von den Deutschen „arisierten“ Häusern. Das fehlende Reprivatisierungsgesetz in Polen beförderte in den vergangenen fast dreißig Jahren den Umstand, dass zunehmend vergessen wurde, wem die Wohnungen einst gehörten. In der Zeit des Realsozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Frage nicht gestellt. Białystok war ähnlich stark zerstört wie Warschau. Jeder war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.

„Sie nahmen den ungleichen Kampf auf, wohl wissend, dass er von vornherein zum Scheitern verurteilt war“, erinnert Lesław Piszewski, der Vorsitzende des Jüdischen Gemeindebundes. „Einigen hundert gelang die Flucht in die Wälder, wo sie sich den Partisanen anschlossen“, so Piszewski. „Die anderen starben im Kampf um Freiheit und Würde.“ Der im israelischen Kiriat Białystok lebende Jakub Kagan dankt den polnischen Politikern für die Organisation der Gedenkfeier und sagt: „Wir erinnern daran, dass es die Deutschen waren, die die Juden ermordeten und die Konzentrationslager errichteten.“

Denkmal der großen Synagoge (aus nachgebauten Kuppel-Elementen)

Foto: Gabriele Lesser

 

 

Nach dem Totengebet für die Białystoker Juden, das Polens Oberrabbiner Michael Schudrich spricht, legen die einzelnen Delegationen ihre Blumengebinde und Kränze nieder. Auffällig ist, dass die katholischen und orthodoxen Würdenträger fehlen. Nach und nach werden die Delegationen aufgerufen, doch es ist kein einziger Bischof und auch kein katholischer oder orthodoxer Priester dabei. Die jungen Deutschen wiederum müssen ihre Blumen niederlegen, ohne dass ihre Delegation aufgerufen wird. Der Stadtbeamte erklärt später: „Ich wollte sie nicht beleidigen. Deutsch, Deutsche – das geht doch nicht.“

Grabsteine am jüdischen Friedhof: In den 50er-Jahren zugeschüttet, Park angelegt

Foto: Archiv

 

 

Der Journalist und Theaterregisseur Dariusz Szada-Borzyszkowski hält das Fehlen der katholischen und orthodoxen Bischöfe und Priester für symptomatisch. „In der hiesigen Sankt-Nikolaus-Kathedrale liegen die Gebeine des heiligen Gabriel. Einer Legende zufolge sollen Juden den Knaben in ein mit Nägeln gespicktes Fass gesteckt und ihn dann so lang gerollt haben, bis das ganze Blut herausgeflossen war. Diese orthodoxe Ritualmordlegende ist in Białystok nach wie vor sehr lebendig. Die Leute glauben das.“ Und was die katholische Kirche in Białystok angehe, so reiche wohl ein Verweis auf die Hasspredigt von Priester Jacek Miedlar für das Nationalradikale Lager (ONR) in der Barmherzigkeits-Kathedrale.

Tatsächlich hatte der Priester am 16. April die schwarz uniformierten Rechtsradikalen vom Altar her aufgefordert: „Null Toleranz für die jüdische Feigheit!“ Nach der Messe marschierten die so Aufgehetzten durch Białystok und brüllen: „Zionisten werden statt Blättern an den Bäumen hängen.“ Zwar entschuldigte sich das Erzbistum drei Tage später, doch nur „bei denjenigen, die sich durch das Verhalten der ONR-Mitglieder in der Kathedrale gestört fühlen“.

Szada-Borzyszkowski, der auch im Freundesverein der jüdischen Kultur aktiv ist und sich seit Jahren für die Erinnerung an das jüdische Białystok einsetzt, fiel schon der ersten Säuberungswelle zum Opfer, nachdem die PiS den öffentlich-rechtlichen Rundfunkt übernommen hatte. Denn wer in Białystok will schon genauer wissen, wie die Stadt aussah, als es hier noch ein reges jüdisches Leben gab? Ein bis zwei Gedenkfeiern im Jahr, und der Erinnerung ist Genüge getan. Ob er in Białystok bleibt, weiß er noch nicht. Im Weggehen summt er leise die Hymne vor sich hin: „Białystok, mein Heim, Białystok, mein Traum …“

 

Foto Gabriele Lesser: Adrian Grycuk

 

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