Damals am Mexikoplatz von Alexia Weiss

 

Viele der jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion bauten sich auf den Wiener Märkten oder mit einem Geschäft am Mexikoplatz eine neue Existenz auf. Als der Eiserne Vorhang fiel, ging es dort nur um eines: so lange wie möglich die Kundschaft zu halten.

Dezoni Dawaraschwili ist 39 Jahre alt. Trotz seines recht jugendlichen Alters hat er für vier Leben oder mehr zu erzählen. 1974 in Georgien geboren, wanderte er mit vier Jahren mit seiner Familie nach Israel aus, um schließlich nicht einmal ein Jahr später in Österreich zu landen. Für die Emigration aus Georgien hatte sich die Familie aus wirtschaftlichen Gründen entschieden. Antisemitismus sei nicht das Thema gewesen. „In Georgien haben die Juden sehr gut gelebt. Aber wir wollten nach Israel.“ Die Lebensbedingungen dort stellten sich allerdings nicht so dar, wie man sich das vorgestellt hatte. „Vor allem mein Vater konnte sich nicht akklimatisieren.“ Wie viele andere bucharische und georgische Juden beschloss die Familie daher, nochmals zu emigrieren – diesmal nach Wien.

Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel, war Dawaraschwili 14 Jahre alt. Sein Alltag spielte sich zwischen Handelsschule und Arbeit ab. Sein Vater betrieb am Mexikoplatz ein Geschäft mit Waren aller Art, wie es damals dort üblich war. Mit Kunden, vor allem aber mit Händlern aus dem Osten hatte man schon in den Jahren davor zu tun. Meist wurden da mitgebrachte Waren wie Kaviar, Wodka oder russische Uhren vor der Mexikokirche zu Geld gemacht, mit dem dann in den Geschäften eingekauft wurde. Polen, Ungarn, Serben, die hätten ja schon vor 1989 reisen können, erinnert sich Dawaraschwili. Mit der Ostöffnung kamen dann aber die wirklich goldenen Jahre.

„Plötzlich gab es die Reisefreiheit. Die Leute haben Geld gehabt, konnten sich darum in ihrer Heimat aber nichts kaufen. Und sie wollten unbedingt shoppen. Die Menschen haben uns überrannt, vielleicht auch, weil wir die richtigen Waren gehabt haben. Unser Geschäft war sieben oder acht Meter hoch und wir hatten alles voller Ware – Uhren, Radios, Kosmetikartikel, Kleidung, diese Geschenksets mit Damenuhren und dünnen Kugelschreibern, geschlichtet bis knapp unter den Plafond. Ich bin in fünfeinhalb, sechs Metern Höhe gesessen, genau so, dass ich mir den Kopf nicht angeschlagen habe, und habe von oben die Ware hinuntergeworfen. Je später am Abend es wurde, desto weiter bin ich heruntergekommen. Und desto höher sind die Preise geklettert.“

Shalom Bar über seine Zeit als Händler auf dem Mexikoplatz: „Von fünf Uhr in der Früh bis abends um acht Uhr unter Dauerstress.“

Foto: Stanislav Jenis

 

 

Shalom Bar stammt ebenfalls aus Georgien. 1989 war er 31 Jahre alt und führte bereits sein eigenes Geschäft am Mexikoplatz. Anders als Dawaraschwili hatte er einige Jahre – von 1971 bis 1981 – in Israel gelebt. Die Entscheidung, nach Österreich zu gehen, fiel aus anderen Gründen. Er hatte in Israel seinen Schulabschluss und eine Ausbildung zum Schlosser gemacht, den Armeedienst absolviert – „ich war Fallschirmspringer“ –, geheiratet, das erste Kind war bereits zur Welt gekommen. „Aber alle zwei Monate musste man wieder zur Armee, für Übungen. Und da habe ich zu meiner Frau gesagt: Jetzt reicht es mir. Ich will nicht mehr. Ich will weg von hier.“

Zunächst ging er nach Deutschland, wo bereits sein Schwager lebte, schließlich landete die Familie in Wien. Hier betrieb er zuerst mit Verwandten ein Obst- und Gemüsegeschäft. 1989 kam dann der große Glücksfall: Bars Frau gewann im Lotto. Mit dem Geld baute sich die Familie das Geschäft am Mexikoplatz auf – und es sollte für Jahre ebenfalls eine Goldgrube werden.

„Siebzig bis achtzig Personen haben wir auf einmal hereingelassen, der Rest musste vor dem Geschäft warten. Immer sind Schlangen draußen gestanden, schon in der Früh, als wir noch nicht einmal aufgesperrt hatten.“ Die Preisgestaltung erfolgte je nach Nachfrage. „Wir hatten zum Beispiel von Rexona diese Deosprays. Da waren die Slowaken und Tschechen ganz heiß drauf. Sie hätten jeden Preis dafür bezahlt“, erzählt Bar.

In diesen Jahren habe man so viel gearbeitet, dass man physisch nicht mehr imstande gewesen sei, das eingenommene Geld jeden Abend zu zählen, erinnern sich Dawaraschwili und Bar. „Du hast um fünf Uhr angefangen zu arbeiten, bis acht Uhr abends bist du nonstop unter Dauerstress gewesen. Du musstest nachher das Geschäft schlichten, bist um zehn Uhr nach Hause, hast etwas gegessen und wolltest dann nur mehr ins Bett gehen“, so Dawaraschwili, der Jüngere der beiden. Das Geldzählen habe man daher aufs Wochenende verschoben.

Unser Geschäft war sieben oder acht Meter hoch und wir hatten alles voller Ware – Uhren, Radios, Kosmetikartikel, Kleidung, diese Geschenksets mit Damenuhren und dünnen Kugelschreibern –, geschlichtet bis knapp unter den Plafond.

Irgendwann Mitte der 1990er-Jahre sind dann nach und nach die Käufer ausgeblieben. Zum einen entstanden damals überall Einkaufszentren. Zum anderen gingen Händler aus Österreich direkt nach Ungarn, nach Polen, auch viele jüdische. „Das hat das Geschäft hier kaputtgemacht“, konstatiert Bar. Bis 1997 ist er am Mexikoplatz geblieben, danach gingen die Rollbalken für immer herunter. Verbittert ist er dennoch nicht. Er ging andere Wege – und machte in Jeans. 5000 Stück produzierte er täglich, die in Geschäften in ganz Europa verkauft wurden. Gesundheitliche Probleme zwangen ihn dann, ein paar Gänge zurückzuschalten. Aber: „Ich will nicht nur zu Hause sitzen.“ Heute kümmert er sich in einem Wiener Unternehmen um die Einteilung der LKW-Fahrer. Die Firma gehört einem Bekannten, berichtet er: „Vor vielen Jahren, als er arbeitslos war, habe ich ihm Arbeit gegeben. Jetzt hilft er mir. Darum musste ich ihn gar nicht bitten, das hat er von sich aus angeboten.“

Dezoni Dawaraschwili: „Eine Mentalität, die über Jahrzehnte da war, kann man nicht von einem auf den anderen Tag ändern.“

Foto: Stanislav Jenis

 

 

Dawaraschwili, inzwischen vierfacher Vater und politisch engagiert – er ist nicht nur Mandatar der Wiener georgischen Juden im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien, sondern auch deren Vizepräsident –, ist nun in der Baubranche tätig. In der Kultusgemeinde vertritt er die rund 550 Grusinen, die heute noch in Wien leben. Doch es waren schon einmal wesentlich mehr, erzählt er. Die Ostöffnung ermöglichte den Aufbau neuer Geschäftsfelder auch in der ehemaligen Sowjetunion, spätestens in der Finanzkrise gab es einen zusätzlichen Anreiz, sein Glück woanders zu versuchen. In die alte Heimat Georgien hat es aber so gut wie niemanden zurückgezogen. Denn bis heute seien, wie er weiß, nur die großen Zentren Russlands – Moskau, St. Petersburg – wirtschaftlich wirklich attraktiv. Einige georgische Juden zog es zudem nach Antwerpen oder New York.

Geschäftslokal am Wiener Mexikoplatz: Einst gab es Waren aller Art für ausgehungerte Konsumenten aus dem Ostblock.

Foto: Kellerabteil / cc by-nc 2.0 / https://flic.kr/p/6x6PzU

 

 

„Wenn du heute nach Russland fliegst und aus Moskau hinausfährst, bist du in der realen russischen Welt“, sagt er. Man könne den Aufbau der Marktwirtschaft in Westeuropa nicht mit jenem im postsowjetischen Russland vergleichen. Infrastrukturprojekte seien in der Region nur schleppend vorangetrieben worden. „Jetzt gibt es eine Marktwirtschaft, aber mit russischen Werten. Du darfst alles kaufen und Steuern zahlen.“ Ansonsten sei Ruhegeben angesagt. „Das ist das System, mit dem Russland heute regiert wird. Die meisten Menschen kennen es gar nicht anders. Eine Mentalität, die über Jahrzehnte da war, kann man nicht von einem auf den anderen Tag ändern.“

Die Ostöffnung ermöglichte den Aufbau neuer Geschäftsfelder auch in der ehemaligen Sowjetunion, spätestens in der Finanzkrise gab es dafür zusätzliche Anreize.

Wie aber haben Dawaraschwili und Bar damals, 1989, hier in Wien den Fall des Eisernen Vorhangs wahrgenommen? Hat man in der Schule darüber gesprochen? In der Familie? Mit den Kunden? „In diesem Moment war das für uns uninteressant“, sagt Dawaraschwili rückblickend. „Wir waren selber Immigranten und haben um unsere Existenz gekämpft. Politik war uninteressant. Und persönlich: Die Freiheit hatten wir schon zu dem Zeitpunkt, als wir aus der Sowjetunion ausreisen durften. Für uns war das ja nicht Neues, nichts Überwältigendes. Was Demokratie bedeutet, das habe ich hier in Österreich gelernt. Und wenn man zurückschaut: Als die Grenzen aufgingen, da war, glaube ich, auch vielen im Osten nicht klar, was das jetzt wirklich bedeutet. Sie waren ja nicht gewohnt zu reden. Und Demokratie ist ja auch nicht nur zu sagen, das gefällt mir nicht, sondern eine Lebensweise, eine Philosophie. Die muss man sich erst aneignen.“

Sorgen bereitet Dawaraschwili der Zustand der Demokratie in Ungarn. Die Regierung eines EU-Mitgliedslandes, die demokratisch gewählt wurde und seinen Kindern Geschichte derart verfälscht vermittle, sei mehr als verwunderlich. „Es ist nicht immer leicht, sich seiner Geschichte zu stellen. Die Schuld den anderen zuzuschieben ist halt die einfachere Variante. Das kennen wir alle – aus der Geschichte.“

Für das Judentum sehen Dawaraschwili und Bar in Osteuropa durchaus auch ein Revival, das es ohne Ostöffnung nicht gegeben hätte. „In Georgien durften Juden ja Juden sein. Aber in anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion war das anders, da war die Religionsausübung nicht erlaubt. So waren sehr viele Menschen assimiliert. Es hat eine Zeit gedauert, aber Reisen nach Israel, ein coming back to the roots und nicht zuletzt das starke Engagement von verschiedenen jüdischen Gruppierungen wie Chabad haben vielen Menschen dazu verholfen, dass sie überhaupt wissen, dass sie Juden sind und sich wieder ein bisschen etwas aneignen“, meint Dawaraschwili. „In Riga gab es nichts. Und jetzt ist dort wieder eine blühende Gemeinde. Die Synagoge wurde restauriert und schaut unglaublich aus und die Gemeinde wächst, es gibt koscheres Essen und koschere Supermärkte. Und so ist es auch in vielen anderen Städten in Osteuropa und Russland.“

Und der steigende Antisemitismus in Europa? Die Neonazis in Russland? Bereiten die Sorgen? „Es geht ja auch um diese nationalen Tendenzen wie in Ungarn“, sagt Dawaraschwili. Und ja, „die Geschichte wiederholt sich. Es ist immer nur eine Frage der Zeit.“ Unterm Strich: Der große Aufschwung, er ist verpufft. Finanziell profitiert hat nur eine Minderheit, und die Demokratie ist in Teilen des ehemaligen Ostblocks noch am Beginn ihrer Entwicklung. Man müsse lernen, dass meine seine eigene Meinung vertreten dürfe, ohne dafür gleich eingesperrt zu werden.

Und als Jude müsse man sich mit neuem Unerfreulichem auseinandersetzen, wie dem Antisemitismus, der von muslimischer Seite komme und zuletzt diesen Sommer angesichts der jüngsten kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas in zahlreichen antisemitischen Kundgebungen und Ausschreitungen gegenüber Juden, etwa in Paris, gipfelte. „Wir hoffen, dass die Politik in der EU sich hier nicht vor ihrer Verantwortung drückt und diese sehr negativen Tendenzen der Judenhetze bekämpft“, sagt Dawaraschwili. „Leider wurde schon über viele unerfreuliche Vorfälle in den Medien berichtet. Diese hätten durch Vorbeugung verhindert werden können. Es ist höchste Zeit, hier gegenzusteuern!“

 

Alexia Weiss, Foto: Paul Divjak

Logo FacebookLogo Twitter