„Ein Meer, in das ich eintauche“

Von Manuela Tomic

Seit Jahrzehnten macht die Wiener Historikerin Shoshana Duizend-Jensen Spuren jüdischen Lebens in der Hauptstadt sichtbar. Heuer wurde sie dafür mit dem Leon-Zelman-Preis für Dialog und Verständigung ausgezeichnet.

Wenn Shoshana Duizend-Jensen durch den zweiten Wiener Gemeindebezirk streift, hat sie das Gefühl, die Häuser würden zu ihr sprechen. Sie kennt jede Fassade, jeden Hinterhof, weiß, welche tragischen Geschichten mit den Gebäuden verbunden sind. Denn die Historikerin kämpft Tag für Tag gegen das Vergessen an.

Vor dem „Anschluss“ 1938 florierte in der Hauptstadt die drittgrößte jüdische Gemeinde Europas mit etwa 540 Vereinen, 300 Stiftungen und 26 Synagogen. Heute ist nur wenig davon übrig. Es sind Zahlen wie diese, die Duizend-Jensen umtreiben.

In der Ausstellung „Geplündert, verbrannt, geräumt, demoliert. Verschwundene Zentren jüdischen Lebens in Wien“ hat sie im Wiener Stadt- und Landesarchiv Spuren dieser Kulturgeschichte wieder sichtbar gemacht und dafür dieses Jahr den Leon-Zelman-Preis für Dialog und Verständigung erhalten.

Duizend-Jensen bedeutet der Preis viel. Schließlich ist es auch ihr Leben, das sie neben unzähligen weiteren Schicksalen seit Jahrzehnten akribisch erforscht. In der Community ist die 58-Jährige bekannt. Von 1998 bis 2002 war Duizend-Jensen festes Mitglied der Österreichischen Historikerkommission, leitete dort ein großes Forschungsprojekt, das jüdische Vereine, Stiftungen und Fonds sowie deren „Arisierung“ und Restitution im Blickwinkel hatte. Seit 1992 ist sie Mitarbeiterin im Wiener Stadt- und Landesarchiv und spezialisierte sich 2003 zu den Themen Jüdisches Wien, Novemberpogrom, Opfer- und Tätergeschichten und Nachkriegsjustiz. Und erst kürzlich wurde sie in den Vorstand des Wiener Stadttempels gewählt.


Die Historikerin Shoshana Duizend-Jensen bei der Verleihung des Leon-Zelman-Preises im Wiener Rathaus im Juni 2019
© PID/Schaub-Walzer

Der Erfolg ist der fast schüchtern wirkenden Frau mit den dichten dunklen Haaren und dem rosa Lippenstift nicht anzumerken. Wenn Duizend-Jensen über ihre Forschung spricht, wirkt sie behutsam, zurückhaltend, als würde sie ihrem Quellenmaterial jeden Tag aufs Neue Respekt zollen.

Schon in ihrer Diplomarbeit beschäftigte sich die Historikerin mit der linkszionistischen jüdischen Jugendbewegung Hashomer Hazair. „Ich habe mich richtig darauf gestürzt“, sagt sie und gestikuliert mit ihren Händen. „Ich wollte herausfinden, wieso sich jüdische Jugendliche in der Ersten Republik einerseits dem Zionismus, andererseits dem Kommunismus, dem Sozialismus oder den konservativen jüdischen Parteien zugewandt haben“, erzählt sie. Ihre Recherchen führten sie nach Israel. Sechs Wochen lang besuchte die damalige Studentin Archive, sprach mit Zeitzeugen und konstruierte so das jüdische Vereinsleben akribisch nach. In der Nationalbibliothek durchforstete sie die Folianten der jüdischen Zeitungen. Das Quellenmaterial schien endlos. „Das war wie ein Meer, in das ich eingetaucht bin“, sagt Duizend-Jensen.

Gerade arbeitet sie in der Historischen Wissensplattform der Stadt Wien mit dem Namen „Wien Geschichte Wiki“ das jüdische Wien und NS-bezogene Themen auf und verfasst Artikel dazu. „Dort ist mein gesamtes Wissen gelagert“, sagt sie und zeigt auf einen weißen Schrank mit dicken Ordnern. Dieses Wissen gelte es nun systematisch zu digitalisieren.

Doch Duizend-Jensen hat auch andere Bereiche, in denen sie sich engagiert. 2008 gründete sie die „Selbsthilfegruppe der Contergan- und Thalidomid-Geschädigten Österreich“, war als deren Sprecherin in zahlreichen TV-Sendungen zu sehen und erreichte 2011 mit ihrer Gruppe eine Entschädigung für die österreichischen Betroffenen in einer Gesamthöhe von 2,8 Millionen Euro.1 Sie ist eine Frau mit langem Atem, Stück für Stück arbeitete sie sich vor, sowohl als Historikerin als auch in ihrer Funktion als Sprecherin der Selbsthilfegruppe. Für beides brauche man Geduld, sagt Duizend-Jensen. Und Geduld zu haben, immer wieder von Neuem Anlauf zu nehmen, das hat sie schon in ihrer Kindheit gelernt.

1961 in Wien als Kind eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter geboren und aufgewachsen, war Duizend-Jensen seit ihrer Geburt von mehreren tragischen Ereignissen begleitet. „Ich war ein absolutes Wunschkind“, erzählt sie. Ihr Vater, ein Internist, starb jedoch wenige Monate vor ihrer Geburt im Urlaub in Südtirol an einem Herzinfarkt. Um den Schock auszuhalten, nahm ihre schwangere Mutter das Beruhigungsmittel Softenon, in Deutschland als Contergan bekannt. Sie hoffte nur eines: dass ihr Mädchen gesund zur Welt kommt. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Als eine von weltweit mehreren tausend Contergan-Geschädigten kam Duizend-Jensen mit verkürzten Armen und anderen Fehlbildungen auf die Welt. Hinzu kam ein angeborener Herzfehler. Karenz oder Kinderbetreuungsgeld gab es damals nicht. Ihre Mutter musste funktionieren, nahm ihre Stelle als Kinderärztin rasch wieder auf.

Duizend-Jensen verbrachte sehr viel Zeit bei ihren katholischen Großeltern. „Das Wort Jude wurde während meiner gesamten Kindheit nicht in den Mund genommen“, erinnert sich die Historikerin. Als Baby wurde sie katholisch getauft und religiös erzogen. „Mein Vater ist mir sehr abgegangen und ich habe mich deshalb regelrecht an die Religion geklammert“, sagt sie.

Der Glaube half ihr über schwierige Zeiten hinweg. Als Achtjährige hatte sie eine lebensgefährliche Herzoperation, lag tagelang auf der Intensivstation im Alten AKH in der Lazarettgasse. „Ich wusste damals nicht, ob ich das überleben werde“, erzählt sie. In der Pubertät wurde die Gymnasiastin wegen ihrer körperlichen Einschränkung von den männlichen Mitschülern ignoriert. Doch die Religion blieb eine Konstante.

Als sie sich auf die Matura vorbereitete, kam das große Erweckungserlebnis. „Die Schwester meines Vaters hat mich für die Vorbereitung unter ihre Fittiche genommen und mir erklärt, dass mein Vater Jude war, dass wir Juden sind, und ich durfte mit ihr über die Familiengeheimnisse reden, die mich seit Jahren beschäftigt haben“, sagt sie. Für Duizend-Jensen änderte sich in diesem Jahr alles. Sie entschied sich, Geschichte und Judaistik zu studieren, lernte Hebräisch.

Nach ihrem Studienaufenthalt in Israel wollte die Historikerin jüdisches Leben nicht nur erforschen, sondern auch selbst leben. Doch das Konvertieren zum Judentum stellte eine Hürde dar. Wie es die Halacha verlangt, wurde Duizend-Jensen von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg zunächst abgelehnt, aber dann sehr unterstützt. Er schickte sie zu einem Lehrer, damit sie das gesamte jüdische Regelwerk, den Schulchan Aruch, erlernt. „Ich wollte wie immer alles perfekt machen“, erinnert sie sich. 1997 reiste sie mit anderen Frauen nach Israel und konnte dort nach einem intensiven Studium an einer Frauenjeschiwa orthodox zum Judentum konvertieren. Zu ihrem Vornamen Angelika kam nun der Vorname Shoshana. So nennt sich Duizend-Jensen heute. „Zur Verwirrung meiner nicht-religiösen Mutter bin ich dann doch streng religiös geworden“, sagt sie mit einem Schmunzeln.

Heute bezeichnet sie sich als modern-orthodoxe, zionistisch gesinnte Jüdin. Sie hält Schabbat und Kaschrut, hat aber auch nicht-jüdische Freunde. „Wir haben einen Fernseher zu Hause und sind offen und gebildet. Menschlichkeit ist für mich die oberste Priorität“, sagt Duizend-Jensen. Jeden Schabbat und an den Feiertagen geht sie in den Wiener Stadttempel und akzeptiert es, getrennt von den Männern in der Galerie zu sitzen. „In haredischen Synagogen, wo ich in einem Nebenraum sitzen würde und schlecht höre, fühle ich mich nicht wohl“, sagt sie. Auch dass Frauen und Männer womöglich getrennt in einem Bus sitzen, findet sie nicht gut. Duizend-Jensen bewegt sich gekonnt zwischen den Welten, möchte Frauen untereinander vernetzen und zum Austausch anregen. Ebenfalls bekämpft sie traditionelle Rollenbilder. „Männer sollten sich auch in streng-orthodoxen jüdischen Familien an der Kindererziehung und dem Haushalt beteiligen“, sagt sie.

Mit der Partnersuche hatte sie es selbst lange Zeit schwer. „Nachdem ich zum Judentum konvertiert bin, wurden mir einige Männer vorgeschlagen“, erzählt sie, „ich fuhr mehrere Male nach Israel und Amerika, um diese kennenzulernen. Doch meist erwies sich das als Flop.“ Viele Männer konnten mit ihrer körperlichen Beeinträchtigung nicht umgehen, erinnert sie sich. Ihrem heutigen Ehemann Herman hatte sie schon per E-Mail mit sehr viel Angst vor Ablehnung über ihre körperliche Beeinträchtigung erzählt. Für ihn sei das aber kein Thema gewesen, erzählt Duizend-Jensen. Sie hatte die Suche nach „dem Richtigen“ schon aufgegeben, als sie Herman durch Zufall über Freunde kennenlernte. 2002 heirateten die beiden in Wien und in Amsterdam. Es sei eine absolute Liebesheirat gewesen, schwärmt Duizend-Jensen.


Duizend-Jensen mit ihrem Ehemann Herman und ihren zwei Kindern, 2016
© Privat

Obwohl ihre Behinderung in ihrem Leben eine prägende Rolle spielte, erfuhr sie erst 1996, mit 35 Jahren, warum sie mit den Fehlbildungen geboren wurde. Ihre Mutter erzählte ihr erstmals, dass sie während der Schwangerschaft Contergan eingenommen habe. Doch wer sich nicht bis zum Jahr 1983 bei der deutschen Contergan-Stiftung für behinderte Menschen gemeldet hatte, dem blieb jegliche Entschädigung vorenthalten. Wie Duizend-J­ensen erging es auch anderen Geschädigten in Österreich.

Duizend-Jensen wollte das nicht einfach so hinnehmen und gründete daraufhin die „Selbsthilfegruppe der Contergan- und Thalidomidgeschädigten Österreichs“. Nach jahrelangen Anspruchsstreitigkeiten, Medienauftritten und Treffen mit anderen Betroffenen auf der ganzen Welt, konnte Duizend-Jensen im Jahr 2011 einen großen Erfolg erzielen: eine Einmalzahlung für die österreichischen Betroffenen in Gesamthöhe von 2,8 Millionen Euro, also etwa 160.000 Euro pro Person.

Wenn Duizend-Jensen Missstände entdeckt, kämpft sie dagegen an – auch im Politischen. Im Bundespräsidentenwahlkampf 2017 ging sie für Alexander Van der Bellen auf die Straße, verteilte Flyer, redete mit der jüdischen Community. „Viele wollten Norbert Hofer wählen, weil sie Opfer von muslimischen Anfeindungen waren“, sagt Duizend-Jensen, „doch ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, dass dies eine falsch verstandene Liebe zu Juden ist.“ Bis zum Schluss hat sie auf der Straße politische Basisarbeit geleistet. Sie fehlt auch heute bei kaum einer Demonstration gegen Rechtsruck und Hass auf alles Fremde. Nicht zuletzt auch wegen ihrer Erfahrung mit Geflüchteten. 2015 gab sie geflüchteten Menschen Deutschunterricht. Die damals geschlossenen Freundschaften halten bis heute. Duizend-Jensen berät, hört zu, organisiert Kinderbetreuung, kauft Fahrräder und PCs. Für Duizend-Jensen sind das „nur kleine Hilfestellungen“. Mit Sorge beobachtet sie die gegenwärtigen politischen Entwicklungen, sie will sich, wo sie kann, weiter engagieren. Vielleicht hat ihr Engagement für geflüchtete Menschen aber einen ganz einfachen Grund: Duizend-Jensen weiß, was es bedeutet, sich fremd zu fühlen und zwischen zwei Welten aufzuwachsen.

1 Thalidomid ist ein Arzneistoff, der bis in die 1960er-Jahre als Schlaf- und Beruhigungsmittel unter den Markennamen Contergan und Softenon verkauft worden ist und zu zahlreichen schweren Schädigungen an ungeborenem Leben führte.

KASTEN

„Mosaiksteine des Gewesenen“

Im vergangenen Juni wurde der Historikerin Shoshana Duizend-Jensen im Wiener Rathaus der Leon-Zelman-Preis 2019 verliehen. Dieser wird an Personen oder Initiativen vergeben, die sich im Sinne Leon Zelmans – auch Gründer des „Jüdischen Echos“ – aktiv für die Erinnerung an die Schoah und den Dialog zwischen dem heutigen Österreich und den Opfern der NS-Verfolgung und ihren Nachkommen einsetzen. Duizend-Jensen wurde von der Jury ausgewählt, weil sie „sich seit vielen Jahren umfassend mit der Entrechtung, Beraubung, Vertreibung und Verfolgung von Wiener Jüdinnen und Juden“ auseinandersetzt.

In den Worten der Laudatorin Barbara Serloth, Politikwissenschaftlerin und ehemalige Studienkollegin: „Shoshana holt mit ihrer Arbeit das Vergangene in unsere Gegenwart. Ihre verschiedenen Projekte beruhen auf dem Selbstverständnis, dass sie nicht ruht, bis sie die Mosaiksteine des Gewesenen freigelegt hat, bis sie ein paar der manchmal unförmigen, manchmal verwahrlosten, manchmal bloß unbeachteten, manchmal auch achtsam aus dem Blickfeld weggeräumten oder nur vergessenen Zeugnisse des Gewesenen neu beleben und in erzählbare Geschichten transferieren konnte; bis sie in der Lage war, ihnen ein Antlitz zu geben, sie mit einem Namen und einem Ort zu versehen – und sie damit nicht nur vor dem Vergessenwerden bewahrt, sondern vor allem vor dem Entschwinden aus dem Gewesenen. Das bedeutet sehr viel. Es bedeutet, dem Damals seine Geschichte zu bewahren. Den Opfern ihre Geschichte und ihr Leben zu wahren oder auch zurückzugeben.“ (red)

Foto Manuela Tomic © Michael Obex

Logo FacebookLogo Twitter